Portrait, Tiny Residencies 31.12.2022

Agora mit Autofahrer*innen

Agora mit Autofahrer*innen
© Claudia Saar. Resident*innen bei der Arbeit: Mit Lego® Serious Play® kreierten b-sides x im Workshop neue Ideen und Konzepte.

Sind die marktorientierte Methode des Design Thinking und Kunst kombinierbar? Claudia Saar und Martin Wisniowski vom Künstler*innen-Label b-sides x wagten während ihrer Residenz in Königswinter unter dem Arbeitstitel „Knutschzone statt Knautschzone“ die Probe. Ihr Ziel ist eine Performance, die sich um die Mobilität der Zukunft dreht.

Es ist offensichtlich, dass auch im pittoresken Königswinter zu Füßen des Siebengebirges mit dem markanten Drachenfels und dem Petersberg Autos das Stadtbild prägen. Neben dem schmalen Gehweg, der mich vom Bahnhof in die Altstadt führt, sausen immer wieder Kraftfahrzeuge vorbei. Manche nutzen den Bürgersteig als Parkplatz, sodass an einigen Passagen nur noch ein Nadelöhr auf dem Bürgersteig übrigbleibt. Wie sollen hier Rollstuhlfahrer oder Eltern mit Kinderwagen durchkommen? Ja, der Autoverkehr ist nicht nur ein ökologisches Fiasko, sondern birgt reichlich Konfliktpotential. Das gilt zwar für nahezu jede bundesrepublikanische Stadt. Doch es lässt sich eben anhand dieses beliebten Tourismusortes im Rhein-Sieg-Kreis veranschaulichen: Laut Wikipedia waren in der Stadt 29.424 Kraftfahrzeuge zugelassen (Stand 1. Januar 2018), obwohl der Ort gerade mal 41.065 Einwohner*innen zählt (Stand 2021). Anders ausgedrückt: Nur fast ein knappes Viertel der Einwohner*innen in Königswinter besitzt keine Karosserie.

Mit den Konflikten und weiteren Fragen, die der Autoverkehr im öffentlichen Raum birgt, beschäftigten sich vor Ort eine Woche lang die Künstler*innen Claudia Saar und Martin Wisniowski im Rahmen einer Tiny Residency im Kunstatelier Hotspot KW. Beide stecken hinter b-sides x, einem Label, unter dem analoge und digitale Künstler*innen, aber auch Designer*innen sowie Stadtplaner*innen die Interaktion mit der Stadt suchen. Zugleich geht es beiden darum, innovative Formate aus Theater, Storytelling und Games zu erforschen und sich neu anzueignen. Das Schlagwort von b-sides x lautet: urbane Transformationen.

Solch eine Transformation findet sich auch im Arbeitstitel, unter dem die Beteiligten ihr Residenzprojekt begannen: „Knutschzone statt Knautschzone“. Die gemeinsame Residenz bildet den Startpunkt für einen Recherche- und Diskussionsprozess, an dessen Ende eine Performance stehen soll. Obwohl sie sich im Laufe der gemeinsamen Woche vom ursprünglichen Arbeitstitel verabschiedeten, weckt dieser doch reichlich Assoziationen: zwischenmenschliche Nähe statt einer Atomisierung durch den motorisierten Individualverkehr; ein zärtliches Miteinander statt des aggressiven Gegeneinanders im Straßenverkehr.

Emotionales Thema

Die Realität sieht dagegen weniger romantisch aus, wie auch Martin Wisniowski weiß: „Das Thema ist sehr emotional, es geht um Autos, um Mobilität, um Parkplätze, möglicherweise auch um Nachhaltigkeit.“ Wer an die Auseinandersetzungen mit dem Autorverkehr denkt, hat vielleicht die Bilder von Mitgliedern der „Letzten Generation“ vor Augen, die unter anderem Straßen blockieren, um auf den Klimakollaps aufmerksam zu machen. „Am Beispiel dieser Aktivisten, die sich auf Straßen kleben, sieht man ja die Brisanz dieses Themas“, so Wisniowski, der mit Blick auf die Protestaktionen beide Perspektiven erwähnt: „Die einen kleben sich fest, weil sie kritisieren, dass ihre Zukunft zerstört wird, während die anderen hupen, weil sie nicht zur Arbeit kommen.“

Mit ihrem Projekt wollen sie diese Polarisierung zurückschrauben, so Wisniowski: „Es geht darum, eine Erzählung oder ein Bild zu finden, um diese gesellschaftliche Konfrontation ein Stück weit aufzulösen und zu einem solidarischen Denken zu gelangen.“ Ihr Anliegen sei nicht die Kritik an der Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch den PKW, so Claudia Saar: „Es geht darüber hinaus. Es geht auch um die Beziehungen von Menschen zum Auto.“ Um dieses Verhältnis auszuloten, bot das Residenzteam einen öffentlichen Austausch an, eine Art „Agora im Innenraum“, so Saar: „Für uns bedeutet der öffentliche Raum zugleich eine öffentliche Diskussion.“ Dafür hatten sie am 17. Dezember die Bürger*innen zu einem „ParkCafé“ ins Hotspot KW eingeladen, zu einer „kulturellen Auseinandersetzung zu Freiräumen und Automobil bei Kaffee und Kuchen“, so der Untertitel der Veranstaltung. „Alle konnten auf eine vorher strukturierte Weise mit uns oder miteinander ins Gespräch kommen“, berichtet Saar. Die Ergebnisse werden mit einfließen in eine Performance über den öffentlichen Raum, die im September 2023 anlässlich des „Parking Days“ aufgeführt werden soll.

Als ich beide am Sonntag darauf besuche, ist es noch zu erkennen: Hier haben Menschen ihre Köpfe zusammengesteckt und überlegt, wie sich der öffentliche Raum neu denken lässt. So liegen im Dachgeschoss des Hotspot KW die bunten Spielzeugbausteine der dänischen Firma „Lego“ auf einem Tisch. Was viele noch aus ihrer Kindheit kennen, nutzten die Resident:innen zur Ideenfindung, als „Lego® Serious Play®“, so der offizielle Methodenbegriff, der sogar urheberrechtlich geschützt ist. Hinzukommen Klebezettel und Poster, auf denen sich Anregungen und Fragenstellungen finden, unter anderem: „Wir hat sich ihr Bild von Mobilität verändert?“

Das Vorgehen, das die Beteiligten wählten, ist dem Design Thinking entlehnt, ein Ansatz, mit dem Ideen und Problemlösungen entwickelt werden sollen. Dass diese Methode verbraucher- bzw. markorientiert ist und unter anderem in der Startup-Branche angewendet wird, war beiden bewusst; es ging ihnen vielmehr darum, die Schnittmengen und Differenzen zwischen Design und Kunst zu erforschen, so Wisniowski, der zugleich Programmierer und IT-Spezialist ist: „Es war Teil dieses Projekts, herauszufinden, ob dieser Methodenkoffer auch für künstlerische Projekte geeignet ist.“ Das galt insbesondere für den gewählten Ansatz, wie Claudia Saar ergänzt: „Wir stellten uns die Aufgaben, zu schauen, inwiefern Design Thinking-Prozesse für künstlerische Projekte angewendet werden können.“

Wissen aus dem Startup-Business

Zwar lanciert sie in dieser Hinsicht den Neologismus „Art Thinking“. Gleichwohl seien ihr die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Bereichen bewusst. Schließlich arbeiten beide Köpfe von b-sides x nicht nur im Theater- und Kunstbereich, sondern auch im Startup-Business. Claudia Saar ist etwa mit der Programmier-, Game- und Development-Aktivität vertraut, betreibt Servicedesign und Marketing. Daher weiß sie: „Innerhalb von Designprojekten bestehen Grenzen durch die Auftraggeber“, so Saar. „Und diese Grenzen sind in der Kunst nur insofern vorhanden, als dass man diese sich selbst setzt.“ Im Design Thinking gehe es darum, sehr spezifische Problemstellungen zu lösen und damit die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen. „Kunst hat dagegen die Absicht, zu provozieren, aufzurütteln“, erläutert Saar. „Im Design Thinking gibt es Prozesse, die Ideen öffnen, schließen, öffnen und wieder schließen. Wir haben festgestellt, dass es in der Kunst in die entgegengesetzte Richtung läuft.“

Im Hotspot KW fanden die Resident*innen die idealen Rahmenbedingungen, um diese Kongruenzen und Differenzen zwischen Startup-Kultur sowie Design Thinking und der Kunst zu erforschen. Die Einrichtung sei darauf ausgerichtet, insbesondere künstlerischen Projekten Raum und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, die frische Perspektiven auf den urbanen Raum eröffnen. „Damit man andere Positionen als durch die Verwaltung oder Wirtschaft gewinnt“, betont Helmut Reinelt, der mit Franca Perschen das kulturbüro nr5 betreibt, eine Agentur, die sich als Netzwerk, als Bindeglied zwischen Auftraggeber*innen und Künstler*innen versteht. Reinelt, selbst Künstler und Verantwortlicher für die Residenzen vor Ort, betont den progressiven Charakter dieser kreativen Projekte, die einen Wandel anstoßen sollen: „Es findet unter dem Gedanken statt, in die Zukunft zu blicken und zu fragen, was kreativ zu dieser ganzen Diskussion beigetragen werden könnte.“ Dafür initiierte das kulturbüro nr5 nicht nur Steet Art-Projekte, die die altstädtischen Gassen Königswinters schmücken. Es wurde auch mit viel Aufwand das hiesige Gebäudekomplex der ehemaligen ZERA Fabrik renoviert, um Kultur und Kunst als Standortfaktor zu forcieren. Wo einst Mess- und Kalibrierungsgeräte hergestellt wurden, können sich nun auf 3000 Quadratmetern Kreative austoben.

Doch auch das bereits bestehende Hotspot KW bietet den Kreativen einen Raum, der rege genutzt wird, wie an diesem Sonntag ersichtlich wird: Im Erdgeschoss der alten Villa widmen sich bildende Künstler ihren Projekten. Durch ein schmales Treppenhaus geht es vorbei an den Wohnetagen, die Resident*innen Unterkunftsmöglichkeiten bieten. Oben im Dachgeschoss sind Claudia Saar und Martin Wisniowski noch damit beschäftigt, am letzten Tag ihrer Tiny Residency das gestrige ParkCafé auszuwerten. Es wurden viele intensive Gespräche geführt, die dokumentiert wurden. Sie sollen als Pool dienen, um auf dieser Grundlage eine Performance herauszuarbeiten. Der ausgewählte Ansatz sei dafür vorteilhaft gewesen, so Saar: „Das Design Thinking ist sehr partizipativ. Es bezieht schnell die potentiell Interessierten und die Nutzer*innen mit ein.“ Allerdings kamen vor allem Autofahrer*innen zum ParkCafé, wie Wisniowski anmerkt: „Ich hätte mir auch leidenschaftliche Radfahrer gewünscht.“

Gleichwohl solle daraus eine Performance entstehen, an deren Konzeption und Inszenierung auch Philipp Schlomm als Schauspieler sowie Marlin de Haan als Regisseurin mitwirken. Wie genau diese Performance aussehen könnte, wollen die Beteiligten noch nicht verraten. „Es ist noch zu unkonkret“, sagt Saar. Aber die Aspekte und Fragestellungen des Arbeitstitels „Knutschzone statt Knautschzone“ bleiben, darunter das Verhältnis der Menschen zum Automobil oder die Vorstellung einer anderen Mobilitätsform. Fest steht schon jetzt, dass die anschließende Performance nicht so konsensual und Wogen glättend ablaufen wird wie das zuvor angewendete Design Thinking. „In einem theatralen Prozess läuft die Reflexionsmaschine des Besuchers eher an, wenn etwas Reibungen erzeugt“, erklärt Saar. „Unsere Leitfrage bei dem Projekt: Wie können wir den Besucher erleben lassen, wie die Haltung der Mobilität sich im Laufe der Jahre veränderte?“ So bleibt es ein Stück weit beim Konfliktpotential des bestehenden Autoverkehrs.

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Benjamin Trilling
Benjamin Trilling
studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Aktuell arbeitet er als freier Mitarbeiter für trailer-ruhr, die taz und die Ruhr Nachrichten.