Alle Macht den Räuberkindern

Für „Ronja Räubertochter“ verwandelt TOBOSO die Bühne des Maschinenhauses Essen in einen wundersamen Möglichkeitenwald. Mit seiner Bearbeitung von Astrid Lindgrens Erfolgsbuch lädt das freie Ensemble ein, über die Selbstbestimmtheit von Kindern nachzudenken.
Kinder ab sieben Jahren sind zu dieser Inszenierung eingeladen – unerwartet also, dass auch das erwachsene Publikum nach der Vorstellung mit tiefgehenden Fragen zu Erziehung, Machtverteilung und Schuld nachhause geht. Aber zunächst zum Anfang: Da ist noch alles überschaubar und folgt zuverlässig Astrid Lindgrens Geschichte. Ronjas Räuberfamilie singt, tanzt und erzählt in grün und pink gefärbten und zusammengeflickten Kostümen und in wilden pinken und blauen Perücken aus ihrem Leben. Gespielt wird sie von Elisa Berrod, Elina Brams Ritzau, Sindy Tscherrig, Moritz Fleiter und Fabian Sattler, die letzteren beiden sind gleichzeitig auch in regieführender Position. Doch die Spielenden verhaften nicht lange in ihren Rollen. Blitzschnell wechseln sie von Mutter zu Wilddrude, vom alten Kameraden zum Felsvorsprung und sogar während eines Streites zwischen den verfeindeten Räuberbanden hin und her. Diese schnellen Figuren- und Szenenwechsel werden nicht nur von der energetischen Spielweise der Performer*innen getragen, sondern auch durch das minimalistische Bühnenbild von Sandra Hilli Becker ermöglicht. Die großen und kleinen Zuschauer*innen sitzen im Kreis rund um die mit drei flauschigen Teppichen ausgestattete Bühne. Diese werden mal zu Gras, mal zu Fell und mal zu Gepäckstücken. Lautsprecher hinter dem Publikum verstärken die selbstgemachten Klanglandschaften.

© André Symann
Als Ronja sich mit Birk, dem Sohn der verfeindeten Bande, anfreundet und ihn gegenüber ihrem cholerischen Vater verteidigt, verstößt dieser seine verräterische Tochter. So verzieht sie sich in den Wald. Ohne Erwachsene. OHNE ERWACHSENE. Also werden alle erwachsenen Zuschauer*innen aus dem Raum gebeten, die Kinder bleiben mit Ronja und Birk im Wald. Ausgesperrt drücken wir Erwachsenen uns nun im Eingangsbereich herum, bis wir von den alten Räuber*innen nach einer Strategie gefragt werden, um die Kinder wieder zurück zur Burg zu holen. Was muss sich ändern, damit die Kinder hier ein Zuhause finden? Wie kommunizieren wir mit ihnen und wer muss sich wofür entschuldigen? Können die Kinder die Bande anführen? Die Ideen der Eltern und Pädagog*innen unter uns Einfallslosen sind unkreativ, die Diskussionen mit Ronjas Vater vergeblich. Wir studieren schließlich ein Lied mit Choreografie ein, um unsere Freude auszudrücken, wenn die Kinder zurück sind. Nach ungefähr fünfzehn Minuten dürfen wir wieder zu den Kindern. Nach unserer Liedvorführung hören wir uns die Forderungen und Bedingungen der Kinder an: unter anderem Frieden, Zusammenschluss und Gewaltfreiheit. Licht aus, Licht an. Die Kinder verbeugen sich mit Ronja vor uns, die Erwachsenen verbeugen sich vor ihren Kindern.
Anfangs scheint das Stück nicht mehr als ein originalgetreues, für mehrere Generationen unterhaltsames Kindertheater. Die freudige Räuberstimmung ist ansteckend, die gefährlichen Abenteuer im Wald mitreißend. Die gelegentlichen Furz-Geräusche schaffen es zwar nicht, alle Altersklassen zu belustigen, dennoch werden alle in das Banden-Gefühl miteingebunden. Aber was will uns die Aufführung wirklich erzählen? Dass wir uns an die Warnungen der Eltern halten müssen, sodass uns nichts passiert in dieser bedrohlichen Welt? Wie schade.

© André Symann
Dieses Leitthema ändert sich aber glücklicherweise in der komplett improvisierten zweiten Hälfte des Stückes. Das generationengetrennte Publikum macht sich nun auf die Suche nach Lösungen, Kompromissen, Frieden. Hier wird das Stück besonders berührend. Während die Kinder miteinander spielen, sich über Überlebenstaktiken unterhalten und Forderungen besprechen, sind wir Erwachsenen betreten, peinlich berührt und doch ernsthaft schuldbewusst. Wir sind die Räuber*innen, wir sind die Kriegstreiber*innen und wir sind diejenigen, von denen sich unsere eigenen Kinder streikend fernhalten. Der Wald wird als Zufluchtsort und Ort der Abregung inszeniert in Situationen, in denen die Kinder nicht mehr wissen, wohin mit all den sinnlosen Traditionen und intensiven Emotionen. Clever. Es ist wichtig, sich mit der Selbstbestimmtheit und Handlungsmacht von jungen Menschen auseinanderzusetzen. Insbesondere in einer Zeit, in der über Bestrafung von jungen Klimaaktivist*innen debattiert wird, die sich Gehör verschaffen wollen und müssen.