Portrait, Tiny Residencies 30.12.2022

Arbeit mit der Kälte

Arbeit mit der Kälte
© Lukas Marvin Thum

Lassen sich die Qualitäten eines Ortes in einem künstlerischen Projekt aufgreifen? Marlin de Haan und ihr Team versuchten genau das im ProjektRaumKunst in Nettetal. „BuschLab 2022“, so der Titel ihrer Performance, ist außerdem ein Angebot an das Publikum zur Partizipation.

Schon allein die eisigen Temperaturen an diesem Adventsnachmittag sprechen dafür, als Publikum mitzumachen. Es schaut zunächst passiv wie konzentriert auf die Darbietung im ProjektRaumKunst – genauso wie ich selbst. Doch die Bewegungen des Performer*innen-Teams scheinen auch sinnvoll zu sein, um der Kälte in Nettetal zu trotzen. Tatsächlich erfahren die Besucher*innen nach der Präsentation von „Showing BuschLab 2022“, so der Titel, dass es ausdrücklich erwünscht war, an der experimentellen Performance zu partizipieren – in welcher Weise auch immer. Diesen experimentellen Charakter der Arbeit signalisiert bereits der Titel; er ergibt sich einerseits aus dem englischen Begriff Lab, der eine wissenschaftliche, aber auch performative Recherche, ein Experimentieren mit künstlerischen Formen bezeichnet. Busch steht wiederum schlichtweg für die Adresse des ProjektRaumKunst im beschaulichen Kaldenkirchen, dessen Flair die Beteiligten wiederum in das eigene Projekt einfließen ließen.

In diesen Stadtteil von Nettetal hat das Team um die künstlerische Leiterin Marlin de Haan an diesem Sonntagmittag eingeladen. Knapp zwei Wochen hat sie hier während einer Tiny Residency im Rahmen des Sonderförderprogramms „Raus ins Land“ mit den drei Performer*innen Kati Masami Menze, Enis Turan und Lena Visser sowie dem Dramaturgen Cornelius Schaper an „BuschLab 2022“ gearbeitet. Die Beteiligten wohnten zudem in dieser Zeit zusammen. Ihre gemeinsame Unterkunft befand sich 25 Minuten entfernt vom Bahnhof Kaldenkirchen. „Wir wollten uns alle kennenlernen. Ich habe daher alle gefragt, ob sie mit nach Nettetal wollen“, erzählt Marlin de Haan. Gleichwohl hatte die Regisseurin Zweifel, wie erfolgreich ihre Einladung wird: „Ich hatte eigentlich nur Argumente, die für Tänzer*innen im Zweifelsfall dagegen sprechen“, so de Haan. „Trotzdem fand sich hier eine Gruppe zusammen, die Lust hatte, sich während der Arbeit kennenzulernen.“ Wie gut alle die Zusammenkunft empfanden, das sollten im Anschluss Evaluationsbögen darlegen, in denen verschiedenen Aspekte von 1 bis 10 zu bewerten sind – „inklusive der gemeinsamen Kochgelage“, so die künstlerische Leiterin.

Irgendwo im Nirgendwo

Dass die gemeinsame Zeit intensiv war, klingt bei den Beteiligten bereits unmittelbar nach der Präsentation an: „Ich fand es sehr ehrlich, es gab sehr emotionale Reaktionen“, verrät Lena Visser, eine der Tänzer*innen. Vielleicht lag es an der engen Unterkunft: „ohne Privatraum und mit Durchgang im Schlafbereich“, so Enis Turan, der extra aus Berlin anreiste. Doch es gehörte eben auch zu ihrer künstlerischen Herangehensweise, sich auf diesen ProjektRaumKunst, aber auch den Ort Kaldenkirchen einzulassen: „Was wir tun, setzen wir in ein Verhältnis zum Ort. Es ist mir auch wichtig, mit den Qualitäten des Ortes zu arbeiten. Dazu gibt es dann eine künstlerische Übersetzung“, so Marlin de Haan, die in dieser Hinsicht eben auch das Ländliche, das Abgeschiedene hervorhebt: „Man sucht diesen Raum auf, der irgendwo im Nirgendwo liegt. Wir kamen gestern mit dem Auto und fuhren erst mal in eine Nebelwand hinein.“

Tatsächlich ist es auch gar nicht so einfach, an diesem Sonntag in dieses „Nirgendwo“ zu reisen – insbesondere für diejenigen, die auf ein Auto verzichten. Die Bahn hat auf der Strecke nach Nettetal einen Schienenersatzverkehr eingerichtet. Doch nicht alle Busfahrer*innen wissen Bescheid. Manche verfahren sich, manche brettern direkt durch in das niederländische Venlo. Wer es irgendwann nach Kaldenkirchen an der deutsch-niederländischen Grenze geschafft hat, passiert zunächst großzügige Gewerbeflächen. Bis schließlich eine Straße zwischen einer Landschaft aus schnörkellosen Zierbäumen zur Adresse führt, wo sich der ProjektRaumKunst befindet, in einem alten Fachwerkhaus.

Seit 2019 bietet hier ein Kunstverein, bestehend aus Mitgliedern aus Mönchengladbach, Viersen, Köln und Nettetal, die Möglichkeit, die Räumlichkeit sowie die Infrastruktur für Kunstprojekte zu nutzen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Kunstvermittlung sowie auf innovativen bzw. experimentellen Konzepten von regionalen und internationalen Kreativen, die sich in der Einrichtung ihren Projekten widmen können. Das können Ausstellungen sein oder eben innovative Erprobungen. Neben Residenzen findet hier zudem alle zwei Jahre das internationale Kunstsymposium „Atelierprojekt“ mit einer darauffolgenden Ausstellung statt.

Gespräche bei Glühwein und Lebkuchen

Der ProjektRaumKunst versteht sich als Ort des Austausches, der Begegnungen und der Gespräche. Und das wird auch an diesem Präsentationstag von „Showing BuschLab 2022“ ersichtlich, an dem der Vereinsvorstand Barbara Schmitz-Becker die Gäste bereits am Eingang begrüßt und dazu einlädt, noch im Hinterhof zu verweilen. Dort kommen die Gäste zu Glühwein und Lebkuchen ins Gespräch, während sich das BuschLab-Team noch auf die Präsentation vorbereitet. Eine ansässige Kaldenkirchenern freut sich etwa über die neuen Gesichter, die sie hier begrüßen kann. Und Barbara Schmitz-Becker empfiehlt dem Publikum, schon mal die Tassen mit heißem Glühwein nachzufüllen, bevor die Performance losgehen soll. Denn die niedrigen Dezember-Temperaturen sorgen in Kombination mit den unverdichteten Wänden und dem kargen Betonboden für eine klirrende Kälte in der Halle. Da ist ein Warmgetränk in der Hand vorteilhaft.

Heizmöglichkeiten gibt es in der Halle nicht. Und das wirkte sich bereits auf die Herangehensweise während der zweiwöchigen Residenz aus, vor allem während der zweiten Hälfte bei der Zusammenarbeit mit den Performer*innen, wie Marlin de Haan verrät: „Wir mussten mit dieser Kälte arbeiten; wir konnten hier nicht lange herumreden, sondern haben uns hauptsächlich bewegt.“ So ging es zum Aufwärmen zurück in die Wohnung, während in der Halle selbst der Schwerpunkt auf den Bewegungen lag. Es sind nicht die einzigen Witterungsbedingungen, mit der die Recherche, schließlich die Präsentation korrespondieren. Auch der erwähnte Dunst, der sich oft über Nettetal legt, findet sich wieder in Form von Trockeneisnebel. Der taucht die Halle in eine trübe Stimmung, bevor Kati Masami Menze, Enis Turan und Lena Visser die Location betreten. Eingekreist vom darum herumstehenden Publikum legt das Trio direkt mit einer (vermeintlich) einstudierten Choreografie los: zunächst mit rhythmischen Bewegungen von Kopf, Hals, Bein; schließlich steppen die Performer*innen mit den Füßen im Takt; zunächst ohne Sprache, ohne Akustik. So ist nur der Atem der Tänzer*innen hörbar, und aufgrund der kalten Luftfeuchtigkeit auch sichtbar. Die Stille im Saal wird nur kurz durch eine Tasse unterbrochen, die einem älteren Herrn aus der Hand rutscht. Klirr. Die Scherben sind schnell beseitigt. Währenddessen tasten sich die Performer*innen weiter durch den Raum, fast wie lebendige Skulpturen, die ihr Verhältnis zum Raum befragen und erkunden wollen. So stemmen sie sich gegen eine Säule, die in der Mitte des Saales liegt. Oder legen sich auf einen der rustikalen Holzpodeste an den Wänden, um dort die Bewegungen weiter zu exerzieren.

Publikum lässt sich nicht planen

Wie Enis Turan im Anschluss verrät, war der Ablauf nicht exakt choreografiert; im Gegenteil, „wir bewegen uns spontan im Raum“, erzählt Enis, der in Köln und Reykjavik Tanz studiert hat. „Wir wissen nicht, wie das Publikum reagiert, aber es hätte mitmachen können.“ An diesem Sonntagmittag bleibt es passiv. Enis ist trotzdem zufrieden mit der Resonanz: „Ich habe das Publikum als sehr konzentriert und respektvoll wahrgenommen.“ Es wurde im Vorfeld einkalkuliert, dass das Publikum eher ruhig das Geschehen beobachten könnte statt aktiv mitzumachen. „Das ist etwas, das man nicht planen kann“, erklärt Marlin de Haan. „Jedes Publikum reagiert anders; es gibt die Beweglichen, die Lauten und die Stillen.“ Diese Reibungsflächen, die spontane Partizipation, ein Interaktionspotential, das sich erst ergibt, sobald das Publikum im Raum selbst ins Verhältnis zum Performten (oder Präsentierten) trifft, werden somit selbst zum Sujet der Performance. Oder wie es de Haan formuliert: „Mich interessieren die Codes unterschiedlicher Räume, ihre verschiedenen Qualitäten, wie sich Publikumsgruppen darin bewegen und wie sie auf das Material treffen.“

Schließlich verortet de Haan – trotz zahlreicher Regieaufträge unter anderem am Schauspielhaus Bochum, Schauspielhaus Hamburg oder dem FFT Düsseldorf – ihre Arbeit an der Schnittstelle von darstellender und bildender Kunst. Es geht ihr um eine Interaktion, um das Spannungsverhältnis von Körpern und Objekten im Raum. Genau das realisiert die „BuschLab“-Crew auch in Nettetal konsequent. Bis schließlich während der Performance noch ein Sprachelement hinzukommt, als sich Cornelius Schaper auf einen der beiden Holzpodeste setzt und zum Megafon greift. Durch das Gerät rezitiert der Dramaturg einen Text, der zunächst wenig greifbar klingt. Oder wiederum banal erscheint, wenn Schaper etwa vom Besuch einer Drogerie erzählt – im Ergebnis fast wie eine dokumentarische Entlehnung, ein Sampling von Alltagssprache.

Bereits zu Beginn der Residenz begannen Dramaturg Cornelius Schaper und Marlin de Haan diese Textelemente zu sammeln. „Cornelius und ich waren zunächst allein hier. In dieser Zeit begannen wir zu recherchieren und Material zu erarbeiten, das wir in der zweiten Woche ausprobieren wollten“, erzählt Marlin de Haan. Dass dieses Sampling den Ausgangspunkt bildet, ergänzt auch Cornelius Schaper: „Es war von Anfang an klar, dass eine Alltagssprache reinkommen soll. Die Auswahl und Generierung haben sich jedoch erst in der letzten Woche ergeben.“ Danach ging es darum, auszuloten, wie die choreografischen Bewegungen mit diesem Sprachmaterial korrespondieren. „Wir haben geprobt, wie der Text funktioniert: besprochen, visualisiert – also, wie der Text überhaupt in der Performance vorkommen kann“, berichtet Marlin de Haan. Somit bildet diese Textsammlung eine Art Klammer im Verhältnis der Recherchephase während der Residenz und der finalen Performance an diesem Sonntag, so die künstlerische Leiterin: „Damit haben wir das Praktische mit dem Theoretischen zusammengebracht.“ Cornelius Schaper ergänzt: „In den Bewegungen gibt es eine Entsprechung zum dokumentarischen Material.“ Beide Performance-Elemente dienten der interaktiven Ausrichtung des Projekts, so der Dramaturg: „Uns interessierte der Alltag banaler Momente, um zu schauen, ob dadurch Reibungen oder ein Interesse entstehen.“

Alltagssprache als Ausgangsmaterial

Dass die Resident*innen zunächst begannen, diese banale Alltagssprache als Ausgangsmaterial zu sammeln, entsprach dem experimentellen Ansatz. Marlin de Haan beschäftigte sich zwar schon mit Objektkunst und entwarf Bühnenräume. Aber an die Arbeit mit dokumentarischem Sprachmaterial musste auch sie sich erst herantasten: „Es ist für uns eine neue Ebene.“ Anschließend ging es für alle Beteiligten darum, mit diesem Material weiterzuarbeiten, es also in ein „Verhältnis von Raum, Zuschauergruppe und Performance“ zu bringen, wie de Haan es bezeichnet. Das an diesem Adventssonntag präsentierte Ergebnis sei jedoch nicht final einzuordnen. Vielmehr lässt sich von einem work-in-progress sprechen. „Man sammelt, sammelt, probiert und dann ist die Premiere“, sagt de Haan. „Wir wollen mit dem erarbeiteten, dokumentierten Material weiterarbeiten. Das war ein erster Schritt. Dazu erhielten wir heute Feedback.“

Denn nach dieser Premiere erhielten alle Anwesenden die Möglichkeit, im Rahmen eines kleinen Publikumsgesprächs Fragen zu stellen oder Eindrücke zu teilen. Die Reaktionen fielen – erwartungsgemäß – unterschiedlich aus. Barbara Schmitz-Becker vom ProjektRaumKunst zeigt sich begeistert: „Diese Art der Arbeit ist neu für uns und bereichert uns sehr.“ Sie betont in dieser Hinsicht vor allem den Charakter von beweglichen Skulpturen im Raum. Doch es gibt auch Kritik. Eine Zuschauerin erzählt zunächst von ihren Aufenthalten in Krisengebieten. Aus ihren Erfahrungen leitet sie die Forderung nach einer engagierten Kunst mit einer klaren Intention ab. Ihre Frage: Wo blieb die Botschaft? Doch darauf zielten die Resident*innen mit ihrer Recherche und Präsentation nicht ab, wie Marlin de Haan klarstellt: „Mit Botschaften arbeite ich nicht, mich interessiert vielmehr der Resonanzraum.“ Die langjährige Regisseurin betont auch gegenüber dem Publikum den interaktiven Charakter der Performance: „Es ist ein Angebot zum Mitmachen.“  An diesem Tag jedoch blieb das Publikum ruhig stehen, keine Partizipation, keine Bewegung. Trotz der klirrenden Kälte im Raum.

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© Lukas Marvin Thum
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Benjamin Trilling
Benjamin Trilling
studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Aktuell arbeitet er als freier Mitarbeiter für trailer-ruhr, die taz und die Ruhr Nachrichten.