Digitale Sichtbarkeit, Interview 31.12.2022

Auf die Bühne statt ins Büro

theaterspiel Laden Witten
© Beate Albrecht / theaterspiel

Mit ihrem mobilen Theater „theaterspiel“ führt Beate Albrecht schon seit knapp 30 Jahren ihre eigenen Produktionen an ganz unterschiedlichen Orten auf. Eine neue App soll die Organisation der Vorstellungen für das zwanzigköpfige Team erleichtern und so mehr Zeit für die Kunst einräumen.

Ende der 90er kehrte Beate Albrecht dem Stadttheater den Rücken zu: Anstatt kleinbeizugeben und sich dem System der Arbeit an großen Theatern zu fügen, machte sie lieber ihr eigenes Ding. Denn sie wollte nur eins: spielen und sich dadurch ihr Leben finanzieren. Als sie dann an einem kleinen Theater für 300 Mark ihre erste Kinderproduktion entwickelte, war die Idee für „theaterspiel“ geboren: Sie wollte raus aus dem Theater und zog mit dem Stück über Lande. Seither hat Albrecht etliche Stücke für Kinder und Jugendliche geschrieben, in denen sie sich mit gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzt und Themen für Jugendliche künstlerisch aufbereitet. So geht es etwa um Mobbing, Angst, Alkohol oder Sexualität.

Anfänglich versuchte Albrecht ihre Stücke an Theater zu verkaufen, doch schnell wurde klar: Sie muss dahin, wo ihr Publikum ist. Mittlerweile spielt sie an allen möglichen Orten von der Turnhalle einer Schule über den Leseraum einer Bücherei bis hin zur Eingangshalle des Jugendamtes. Ob Frauenberatungsstelle, Suchtberatungsstelle oder Kindergarten – überall hat Albrecht ihre sogenannten „Theaterheldinnen“, die Geld generieren, um „theaterspiel“ in ihre Einrichtungen zu holen. Buchen kann man das Kollektiv ganz einfach über die Homepage, auf der man sich ein Stück aussuchen und auch direkt die Preise einsehen kann – ein für den Theaterbetrieb ungewöhnlich kundenorientiertes Konzept.

Allein für 2023 sei „theaterspiel“ bereits für 210 Aufführungen gebucht, erzählt Albrecht im Gespräch. Das mit einem zwanzigköpfigen Team und zwölf Stücken zu meistern ist eine organisatorische Herausforderung. Langfristig will Albrecht deshalb weg von Post-it-Orga am Wandplan und hin zu einem digitalisierten Projektmanagement. Unter dem Titel „Nett arbeiten im Netz“ entwickelte sie deshalb eine App, die den Arbeitsalltag für Künstler*innen erleichtern und Zeit für das wirklich Wichtige freischaufeln soll: die Kunst.

Dass du als junge Schauspielerin deinem festen Engagement den Rücken zugekehrt hast, um neue Wege zu gehen, war sicherlich sehr mutig. Was hat dich dazu bewegt?

Albrecht: Ich war unter anderem an Theatern in München, Berlin und Innsbruck und wusste genau, was es heißt, als Frau ein Engagement zu bekommen: Ich habe zum Teil 80 Bewerbungen geschrieben und war froh, wenn ich ein Casting bekam. Also ja, es war ein mutiger Schritt und ich hatte total Schiss, aber: no risk no fun! Die Strukturen am Stadttheater haben mir nicht gefallen. Ich bin drei Mal geflogen, weil ich mitreden wollte. Erst als ich angefangen habe zu „funktionieren“ und meinen Mund hielt, habe ich Karriere gemacht, bessere Rollen, mehr Geld und Anerkennung bekommen. Erst habe ich versucht, die Strukturen zu ändern und dann gemerkt, dass das nichts bringt. Die Strukturen sind so wie sie sind und entweder du gehst raus und hörst auf mit dem Schauspiel oder du guckst, was du anderes machen kannst.

1997 hast du dich dann mit „theaterspiel“ selbstständig gemacht. Welche Idee steckte hinter dem mobilen Theater?

Albrecht: Mein Credo war: Es muss doch möglich sein, dass ich mich mit meinen Auftritten finanziere. Daraus ist unser Selbstverständnis geworden: Wir leben von den Auftritten und das bis heute: 90 Prozent der Einnahmen akquirieren wir über unsere Auftritte, nur manchmal kriegen wir noch Unterstützung über Förderungen. Deswegen spielen wir so viel. Das ist wie eine Selbstständige, die sagt: „Ich muss meine Kartoffeln verkaufen, je mehr ich verkaufe, desto besser.“ Da ziehen auch alle mit. Und wenn du mobil bist, erreichst du viel Publikum, denn das ist überall.

Heute habt ihr eine eigene Homepage, über die man sich Aufführungen buchen kann. Aber wie vermarktet man Theaterstücke in den 90ern?

Albrecht: Acht Stunden am Tag telefonieren. Die Theater wollten mich zuerst nicht. Dann habe ich das prämierte Stück „Jenseits vom Tag“ über sexuelle Gewalt und multiple Persönlichkeiten geschrieben und bei Wildwasser und FrauenNotruf angerufen und die haben gesagt: natürlich sofort! Sie haben Geld zusammengekratzt und ich bin über zehn Jahre für die ganzen Frauenberatungsstellen und Notrufe gegen sexuelle Gewalt aufgetreten. In der Zeit habe ich gelernt, wer meine Kund*innen sind, wenn ich nicht in die Theater gehen will.

Mit „theaterspiel“ macht ihr vor allem Theater für Kinder und Jugendliche. Warum?

Albrecht: Ich finde Kinder- und Jugendtheater am innovativsten, weil du irrsinnig viel machen kannst, ganz nah am Publikum bist, sofort Feedback bekommst und dich mit deinem Publikum auseinandersetzen musst. Die sind so kritisch!
Und: Du musst nicht berühmt sein. Das ist so nebensächlich. Wichtig ist der Moment, in dem wir auf der Bühne stehen, unseren Job gut machen, begeistern und berühren und die Jugendlichen dann sagen: Euer Film war super – weil sie noch nie Theater gesehen haben.

Ein kritisches Publikum kann ja auch sehr herausfordernd sein. Gibt es manchmal Zweifel?

Albrecht: Viele haben Probleme damit, vor jugendlichem Publikum zu spielen. Und auch ich hatte einen Moment, in dem ich hinter der Bühne stand und gesagt habe: Diese Aufführung noch und dann höre ich auf. Weil ich die rasende Masse nicht unter Kontrolle gekriegt habe oder dachte, sie hören mir nicht zu. Eine Supervisorin gab mir dann den Tipp: Sag ihnen doch einfach, was du brauchst, damit du gut arbeiten kannst. Beim nächsten Mal habe ich es so gemacht und mich mitgeteilt: Ich bin total aufgeregt, ich bitte euch, jetzt eine Stunde zuzuhören und danach sprechen wir darüber. Das funktioniert total gut und wir machen das bis heute so.

Ihr habt ein zwanzigköpfiges Ensemble und zwölf laufende Stücke, die ihr überall aufführt. Wie ist eure Arbeitsteilung?

Albrecht: Zuerst war meine Devise: ich schreibe für mich, weil ich davon lebe. Ich habe die Theaterstücke geschrieben, also muss ich sie auch vertreten und inszeniere und spiele sie. Das Grundkonzept hat sich im Prinzip nicht verändert, nur dass ich über die Zeit und Professionalisierung der Arbeit von „theaterspiel“ immer mehr Leute herangezogen habe. Auch Technik und Ton machen wir selbst. Über die Jahre haben wir herausgefunden, was wir brauchen. Eine Bühnenbildnerin vom Dortmunder Schauspielhaus kreiert das Bühnenbild, sodass es immer eine richtige Theateratmosphäre gibt.
Ich schreibe, produziere und ich spiele und wenn das Team sehr gut eingespielt ist, gebe ich das auch gerne ab.

Wie lange spielt ihr eure Stücke?

Albrecht: In den letzten Jahren habe ich alle zwei Jahre produziert. Ein Stück ist wie ein guter Wein, bis das mal eingespielt ist, brauchst du 40 Vorstellungen, damit das Team sich zusammenfindet und damit es nicht nur vor freundschaftlichem Publikum bestehen kann, das älteste Stück in unserem Repertoire ist von 2005.
Die Stücke ändern sich auch im Laufe der Zeit durch Neubesetzungen. Du musst den Leuten ihre künstlerische Freiheit lassen, sich reinzuleben und sich voll ausdrücken zu können. Das ganze Team muss sich dann wieder neu ausrichten.

Auf eurer Homepage kann man sich die Aufführung quasi als „Ware“ aussuchen und auch die Gagen sind jeweils aufgeführt. Ist euch diese Transparenz besonders wichtig?

Albrecht: Das war irgendwann eine Entscheidung, weil wir da ehrlich gesagt einfach kund*innenorientiert sind. Für Theater kannst du ganz viele gewinnen. Doch meine Veranstalter*innen müssen die Eckpunkte wissen und zu den Eckpunkten gehört: Wie viel kostet es? Was kommt auf mich zu? Was muss ich organisieren? Damit bin ich über die Jahre gut gefahren.

Euer mobiles Konzept und die vielen Aufführungen im Jahr setzen ein hohes Maß an Organisation voraus. Wie koordiniert man das alles?

Albrecht: Genau zu diesem Zweck haben wir die App entwickelt, um die Organisation eines Netzwerks mit zwanzig Leuten und einem Büro mit vier Leuten zu erleichtern. Der Partner einer Kollegin ist IT-Spezialist und hat mal gesagt: Ganz viele analoge Prozesse, bei denen ihr Excellisten ausfüllt oder hier am Wandplan Sperrtermine mit Punkten beklebt, damit man den Überblick behält, kann man auch digitalisieren – das kostet aber viel Geld. Alleine hätte ich mir das nicht leisten können, aber die Organisationsarbeit nimmt so viel Platz ein, dass ich mit meinen Leuten mehr hier im Büro saß als Kunst zu machen. Dann haben wir den Innovationsfond vom Land NRW bekommen und konnte so den ersten Aufschlag für die App machen. Mit der Förderung für Digitale Sichtbarkeit konnte ich schließlich „Nett arbeiten im Netz“ finanzieren. Mein Ziel war: Lasst uns das Projektmanagement digitalisieren, sodass wir nicht mehr mit Excelllisten und Dropbox arbeiten müssen, uns Aufgaben zuweisen und auf einer Ebene miteinander kommunizieren können.

Wie genau funktioniert die „theaterspiel“-App?

Albrecht: Wir haben alle die App auf dem Handy und organisieren uns nur noch darüber. Hier können die Spieler*innen zum Beispiel die Daten eingeben, an denen sie gesperrt werden wollen, also die Zeiträume, in denen sie nicht für uns spielen können. Über das Tool „Jahresplanung“ können wir dann eintragen, wann wir spielen wollen. Die App vergleicht das mit den Sperrterminen und überprüft, ob das überhaupt geht. In einer anderen Maske zur Auftrittsvorbereitung können die Spieler*innen dann sehen, wo sie an welchem Datum hinmüssen, um wie viel Uhr wir uns am Büro treffen und ob sie das Bühnenbild verladen müssen.
Außerdem können sie über die App eingeben, ob sie für ihre Rolle eine Mehrfachbesetzung wollen – wenn sie zum Beispiel in Mutterschutz gehen. Früher haben wir das alles über Mails und Anrufe kommuniziert und jetzt haben wir alles auf einen Blick. Die gesamte Planung für alle Teammitglieder digital transparent zu machen, bringt eine unglaubliche Ruhe in die Kommunikation.

Apps zur Arbeitsorganisation gibt es ja bereits. Was ist also das Spezielle an dieser App für Theaterschaffende?

Albrecht: Mein Problem war immer, dass ich auf zu vielen Plattformen arbeite, über Dropbox, per Mail und andere Organisationsplattformen und so haben wir Termine verpasst, weil wir den Überblick verloren haben. Jetzt haben wir zwei Datenbanken, die miteinander verbunden sind. Was wir in die App eintragen, wird auch im Terminkalender auf der Homepage eingespeist. Um einen Vertrag zu machen, mussten wir früher sieben Klicks machen und jetzt machen wir einen.

Das kann ja auch für andere freie Theater mit einem solchen Produktionsrepertoire hilfreich sein. Habt ihr auch vor, diese App zu vertreiben?

Albrecht: Uns bringt es total voran, aber wir sind momentan noch im Probiermodus, deswegen würde ich damit aktuell noch warten. Die App zu bauen hat 30.000 Euro gekostet. Die Praxis zeigt mir jetzt erst, was ich alles brauche und die Umsetzung ist eine Kostenfrage. Es ist aber wirklich ein Politikum, wie viel Zeit die Theater für analoge Organisationsarbeit aufbringen müssen, deswegen: Wer jetzt schon Interesse daran hat, kann mich gerne anschreiben!

Über die App hinaus habt ihr mit „Nett arbeiten im Netz“ noch eine zweite digitale Idee umgesetzt, eure „Weitermachen“-Seite. Was hat es damit auf sich?

Albrecht: Nach unseren Aufführungen machen wir immer Nachgespräche, um den Kids Theater näher zu bringen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ganz oft haben die Verantwortlichen vor Ort dann gesagt: „Es war so toll, dass Sie da waren, da machen wir jetzt eine ganze Projektwoche draus.“ Deswegen haben wir zunächst Schulmaterialien erarbeitet und den Schulen als Paper für die Vor- und Nachbereitung angeboten. So entstand die Idee, eine Website zu bauen, zu der die Jugendlichen im Nachhinein über einen QR-Code gelangen, um da in Interaktion zu treten. Hier können sie zum Beispiel ein Quiz beantworten oder selbst Themenvorschläge machen. Mit der aktuellen Förderung vom Landesbüro wird diese Seite noch vervollständigt.

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#digitalesichtbarkeit, App, Website

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Simone Saftig
Simone Saftig
studierte Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften. Sie arbeitet am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und schreibt als freie Autorin neben kritik-gestalten auch für Theaterfestivals und den RuhrBühnen-Blog.