Portrait, Tiny Residencies 02.11.2022

Aus Raum und Zeit gefallen

Melanie López López
© Michael Dedeke

In der Stroetmanns Fabrik in Emsdetten, zwischen Osnabrück und Münster, untersuchen die Tänzer*innen Melanie López López und Ricardo Campos Freire unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit. Unsere Autorin hat die beiden fernab des gewohnten städtischen Trubels besucht.

Sie drehen sich um die eigene Achse, mal halb, mal ganz, im Uhrzeigersinn oder dagegen. Sie bewegen sich durch den Raum, erst allein und weit voneinander entfernt, dann zusammen und nah beieinander. Fast unbemerkt trennen sie sich und finden einige Augenblicke später wieder zueinander. Arme recken sich in die Höhe, nehmen den Raum ein. Mit Blicken und ihren Körpern spielen sie mit Nähe und Distanz und verändern dabei immer wieder ihre Geschwindigkeit. Das ist zumindest das, was ich bei Instagram sehen kann, zusammengeschnitten zu einem kurzen Video, einige Tage nach meinem Besuch bei Melanie López López und Ricardo Campos Freire in Emsdetten. Dort befindet sich, etwa zehn Minuten fußläufig vom Bahnhof entfernt, die ehemalige Textilfabrik B. Stroetmann, ein großer Backsteinkomplex mit mehreren Gebäuden und großem Lichthof. Darin untergebracht ist heute die Stroetmanns Fabrik, ein sozio-kulturelles Zentrum und laut Webauftritt „Forum des sozialen und kulturellen Lebens in Emsdetten und der Region“. Neben Büro- und Seminarräumen und einem großen Veranstaltungssaal konnten die beiden Tänzer*innen hier während ihrer „Tiny Residency“ im Rahmen des Förderprogramms „Raus ins Land“ fünf Tage lang gemeinsam Forschen und Ausprobieren.  

Beim Gespräch Ende September sitzen Melanie und Ricardo mir auf zwei grauen Stühlen gegenüber, in Mitten eines hellen, lichtdurchfluteten Saals, dem größten Seminarraum der Stroetmanns Fabrik. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster auf den weißen Schwingboden und brechen sich gegenüber in einer langen Spiegelwand. Draußen auf den Fluren hört man entfernt Kinder spielen, dann wieder nichts. „Heute Vormittag gab es hier ein Rockkonzert für zweihundert Kinder, gerade werden die letzten Schulklassen abgeholt“, erzählt Melanie lachend, „sonst hört man hier nur mal ein Auto brummen, das ist alles.“  

Es ist der vierte Tag ihrer Residenz, einer für sie sehr wertvollen Zeit, sagt sie. „Wir möchten hier Ideen für gemeinsame künftige Produktionen entwickeln, ohne den Druck im Rücken, am Ende etwas Fertiges präsentieren zu müssen. Von der Stroetmanns Fabrik erfuhr sie durch eine befreundete Tänzerin, der Kontakt war schnell hergestellt. „Als ich das erste Mal am Telefon mit Lukas Furth hier vom Haus sprach, fiel mir seine Ruhe sofort auf, ohne Aufregung hat er alles für uns möglich gemacht“, erzählt Melanie. So ging es auch Ricardo bei der Ankunft in Emsdetten: „Die Atmosphäre war von Anfang an anders, als ich es aus größeren Städten kenne, wir wurden voller Offenheit und ohne Hektik empfangen, das war wunderbar. 

Gleich war klar, dass dieser Ort von besonderer Bedeutung sein würde für ihre künstlerische Forschung an Raum und Zeit. Für mich spielt Zeit schon seit langem eine wichtige Rolle, ich denke viel darüber nach, wie wir Zeit wahrnehmen und mit welchen Mitteln wir diese Wahrnehmung beeinflussen können. Diese Fragen sind auch in meiner tänzerischen Arbeit immer wichtiger geworden“, erklärt Melanie. Gemeinsam mit Ricardo will sie herausfinden, wie sich unser Zeitgefühl verändern lässt, wenn zwei Körper sich miteinander bewegen. „Something in between“ heißt ihre Residenz und ist als Anspielung auf allerlei Zwischenräume zu verstehen: zwischen zwei Körpern, zwischen unterschiedlichen Gefühlen oder verschiedenen Zeiten.

Diese Freiheit, hier in Ruhe und prozessorientiert arbeiten zu können, ist selten, sagt Melanie. Meistens proben sie fünf bis acht Stunden täglich, entweder vormittags und nachmittags oder an einem Stück. Die Stroetmanns Fabrik stellt ihnen außerdem ein kleines Apartment zur Verfügung, das gleich nebenan liegt – so können sie arbeiten und pausieren, wann es passt. „Zwar finden hier und da Veranstaltungen im Haus statt, das haben wir aber schon im Voraus abstimmen können und kommen uns deshalb nicht in die Quere“, erzählt sie. Genau diese Freiheit sucht die Tänzerin schon seit Langem. In Deutschland geboren, kam sie mit sieben Jahren nach Spanien, begann Ballett zu tanzen und ging mit 25 Jahren nach London, um dort Zeitgenössischen Tanz zu studieren. Vier Jahre lang lebte sie in London, arbeitete in der freien Tanzszene in England, Irland und Dänemark, hin und wieder auch in Deutschland und Spanien – in aller Regel aber ergebnisorientiert, weil die Ressourcen begrenzt waren.  

2013 zog es sie zurück nach Deutschland, sie tanzte in Festengagements am Stadttheater Hagen und am Theater Münster. Hier waren zwar die Mittel umfangreicher und die Produktionszeiten meist länger, dafür gab es aber kaum Möglichkeiten eigenständig zu arbeiten. Ich habe bald gemerkt, dass ich mir wieder mehr Freiheit verschaffen muss, als ich es in diesen Ensemblebetrieben hatte. Also habe ich gekündigt.“ Es folgte eine Suche nach der richtigen Arbeitsform, sie wechselte zwischen freien Projekten und Gastverträgen überall in NRW. Doch die Sehnsucht nach künstlerischer Freiheit blieb, bald schon zog es die Tänzerin nach Essen, von dort aus wirkte sie an Projekten in Deutschland und Spanien mit, ging aber bald zurück nach Münster. „Aus meiner Zeit im Tanzensemble sind viele enge Kontakte geblieben. Als die Pandemie begann, zog es mich dorthin zurück, weil ich gemerkt habe, dass dieses Zuhause-Gefühl für mich die Basis ist, um als freiberufliche Tänzerin dieser Unsicherheit begegnen zu können, die mit dem Ausbruch von Corona kam.“  

Heute lebt und arbeitet sie von Münster aus und scheint damit sehr zufrieden. „Die Rastlosigkeit ist weniger geworden, ich fühle mich ausgeglichener. Im Moment kann ich von hier aus alles tun, die Stadt ist mein sicherer Ausgangspunkt, das gibt mir Ruhe.“ Die ersten zwei Jahre der Pandemie seien auch deshalb hart gewesen, weil die körperliche Begegnung in der Arbeit plötzlich völlig wegfiel: „Noch nicht mal alleine ins Studio gehen konnte man, für mich als Tänzerin war es wirklich schwierig, in meiner künstlerischen Arbeit nicht stehen zu bleiben oder sogar zurückzufallen.“ Das sei aufreibend und manchmal sorgenvoll gewesen, aber durch die neuen Fördertöpfe hätten sich auch neue Türen geöffnet. Die Residenz in Emsdetten ist so ein Fall, ermöglicht durch Mittel aus dem „NRW-Stärkungspaket Kunst und Kultur zur Abmilderung der Auswirkungen der Corona-Krise“. Als sie das erzählt, leuchten ihre Augen, es scheint, als habe ihr die Pandemie genau die Freiheit ermöglicht, nach der sie so lang suchte.  

Mit der Residenz wird Begegnung wieder möglich, das gemeinsame Ausprobieren, Suchen und Finden im eigenen Körper und dem des Gegenübers. „Niemand stört uns hier, es ist eine ganz entspannte Atmosphäre im Haus, wir können uns einfach auf unser Tanzen konzentrieren, sagt Ricardo, und wird dabei immer leiser mit der Stimme. In Essen, Düsseldorf oder Köln sei das Pulsieren der Stadt auch im verstecktesten Winkel jedes Tanzsaals zu spüren. Häufig könne man das Tempo des Alltags nicht draußen lassen, sondern nehme es mit in die Proben:Manchmal verhindert das den Zugang zu mir selbst, macht das Denken und Fühlen schwieriger. Auch er kennt den Produktionsdruck als freiberuflicher Tänzer und Ensemblemitglied. In Portugal geboren und aufgewachsen, studierte er Zeitgenössischen Tanz in Stockholm. Anschließend tanzte er einige Jahre in Kompanien in Portugal und Serbien, machte Projekte in Holland und Schweden und hatte Festengagements am Kroatischen Nationaltheater, am Theater Hagen und dem Pfalztheater Kaiserslautern. „Egal ob Freie Szene oder nicht, es ist immer wie in einer Fabrik. Man hat zehn Tage oder vier Wochen Zeit, um einen Abend zu realisieren, und dann soll er fünfzehn, zwanzig oder vierzig Minuten dauern. Ich glaube aber, wir Künstler*innen brauchen auch Zeit, um unsere Arbeit zu schätzen und um eine innere Verbindung herzustellen. Hier in Emsdetten denke ich viel darüber nach und merke, was es bedeutet, wenn man Zeit hat für das, was man tut.“  

Mittlerweile lebt Ricardo in Essen, arbeitet von hier aus immer öfter auch als Choreograf. Melanie lernte er am Theater Hagen kennen, die Tiny Residency ist ihr erstes Projekt zu zweit. „Es gibt eine ganz enge künstlerische Verbindung zwischen uns, wir suchen oft nach denselben Dingen“, sagt er. Die Stroetmanns Fabrik scheint ihnen genau den Rahmen zu geben, nach dem sie gesucht haben. Hier ticken die Uhren langsamer. Kaum jemand isst hastig beim Gehen sein Essen, eher setzt man sich in die Sonne und genießt dort seine Pause. Das wirkt sich auch auf unsere Arbeit aus.“ Wann die nächste gemeinsame Produktion ansteht, wissen die beiden noch nicht. Aber eines ist beiden klar: Dieses Zeitgefühl nehmen wir mit zurück nach Essen und Münster. 

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Elisabeth Luft
Elisabeth Luft
lebt und arbeitet in Köln als freie Autorin, Kultur- und Theaterjournalistin (u.a. WDR, DLF). Sie studierte Germanistik, Medienkulturwissenschaften und Theaterwissenschaft in Köln, Rom und München. Sie leitet Blogredaktionen bei Theaterfestivals und ist in unterschiedlichen Theaterjurys tätig.