Kritik 13.11.2022

Böses Erwachen

M? – Eine Stadt sucht keinen Mörder / nö theater
© Stefan Rogge

In „M? – Eine Stadt sucht keinen Mörder“ wirft das Kölner nö theater einen vielseitigen Blick auf das Thema Rassismus und erzählt von Gewalttaten in der DDR und den Anfängen des Faschismus. Unser Autor sah eine theatralische Achterbahnfahrt voller Momente von herrlich groteskem Humor und schrägem Schrecken und empfiehlt das Einsteigen.

Im offiziellen Sprachgebrauch der DDR gab es Akte von rassistischer Gewalt nur im Westen. Dass es im Osten dennoch auch zahlreiche rassistische Gewalttaten bis hin zu Morden an Vertragsarbeitern aus „sozialistischen Bruderländern“ gab, wurde erst nach dem Fall der Mauer bekannt. Der Tod der beiden jungen Kubaner Raúl Garcia Paret und Delfin Guerra, die im August 1979 in Merseburg nach einem Discotheken-Besuch von einer fremdenfeindlichen Menge in die Saale gehetzt wurden und ertranken, ist aber bis heute nicht aufgeklärt. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Halle abgeschlossen und die Schuldigen blieben unbehelligt.

Vielseitiger Blick auf das Thema Rassismus

Das Kölner nö theater, versiert darin, politische Skandale in packendes Polit-Theater zu verwandeln, nahm im März 2020 die Recherche zu dem Fall auf. Angesichts der damaligen Corona-Lage im Lockdown war es der Gruppe allerdings weder möglich nach Merseburg zu reisen, noch Kontakt zu Hinterbliebenen der beiden kubanischen Männer aufzunehmen. So entschied man sich dafür, den Vorfall in Merseburg nicht zu einem abendfüllenden Stück auszuarbeiten, sondern zum (gewichtigen) Teil eines Theaterabends zu machen, der unter dem Titel „M? – Eine Stadt sucht keinen Mörder“ in unterschiedlichen Mosaiksteinen das Thema Rassismus aufgreift. Dabei geht das Ensemble unter der Gastregie von Stefan Rogge verschlungene Wege, deren Ziele sich dem Zuschauenden nicht immer auf den ersten Blick offenbaren.

M? – Eine Stadt sucht keinen Mörder / nö theater

© Stefan Rogge

Wer ist Täter, wer Opfer?

Mit spielerischem Gusto bedient sich die Inszenierung aus der prall gefüllten Schatztruhe von 3000 Jahren Theatergeschichte, die hier als wilde Mixtur auf die Bühne der Alten Feuerwache gebracht wird. Unter den Live-Musik-Klängen von Gitarrist Philipp Ullrich entfaltet sich dabei eine Atmosphäre von Fremdsein und schwelender Gewalt. Lucia Schulz spielt eine Autorin, die entnervt an ihrer Schreibmaschine mit den Worten ringt. Bruchstückhaft schält sich aus ihrem kreativen Ringen eine Geschichte heraus. Protagonist der Handlung ist ein Mann namens Soundso, der nach langer Abwesenheit in ein Dorf/eine Stadt zurückkehrt. Oder war er vorher noch nie dort gewesen? Seinen Erinnerungen ist nur bedingt zu trauen. Er wird zum klassischen unsicheren Erzähler seiner eigenen Geschichte. Im Ort stößt er auf eine Mauer des Schweigens. Während er auf der Suche nach Antworten nur Fragen findet, fällt er in einen tiefen Schlaf. Er wirkt wie ein Nachfahr der Schlafwandler, geteilten Persönlichkeiten und menschlichen Marionetten aus den expressionistischen deutschen Stummfilmen. Der Mann erwacht und befindet sich in den Anfängen des Faschismus. Er ist nicht schuld, er ist verantwortlich. Wer ist Täter, wer Opfer? Bevor er die richtigen Worte finden kann, erlöst ihn die Stimme von Fritz Lang.

Anfänge des Faschismus

Janosch Roloff spielt diesen Fremden mit deutlichen Bezügen zu Fjodor Dostojewskijs seltsamen Antihelden Myschkin aus „Der Idiot“. Jenen „wahrhaft guten Menschen“, der scheinbar dumm und naiv auf seine Umwelt schaut und dabei die Abgründe unter dem dünnen Firnis der Zivilisation aufdeckt. In dem Ort seiner Ankunft tummeln sich finstere Gestalten. Menschen mit langen Pinocchio-Lügennasen, mit Prügeln bewaffnet oder direkt durch ihre Kopfbedeckung als Faschisten erkennbar. Für den Ankömmling gilt es, sich in einer Gesellschaft zu behaupten, in der sich der Faschismus unverkennbar etabliert hat. Ob dieses Szenario aus dem kreativen Hirn der Autorin erwachsen ist, oder es das freie Schreiben mit ständigen Interventionen zu verhindern sucht, bleibt offen, wie so vieles an diesem Abend.

M? – Eine Stadt sucht keinen Mörder / nö theater

© Stefan Rogge

Disparates Erscheinungsbild der Inszenierung

Das bewusste Spiel mit unterschiedlichen Möglichkeiten, die Vielfalt der Optionen, wird hier als Kontrast zum starren Konsens-Denken einer faschistischen Gesellschaft gesetzt, deren Angst vor dem Andersartigen immer zu Ausgrenzung und Rassismus führt. Das disparate Erscheinungsbild dieser Inszenierung ist also gewollt, macht es dem Betrachtenden aber zuweilen schwer, über die gut hundert Minuten die Spannung zu halten. Einsteigen in diese theatralische Achterbahnfahrt voller Momente von herrlich groteskem Humor und schrägem Schreckens lohnt sich aber allemal.

Kommentare

Norbert Raffelsiefen
Norbert Raffelsiefen
hat in Köln Theaterwissenschaft studiert, als das Fach noch Theater-Film- und Fernsehwissenschaft hieß. Neben kritik-gestalten schreibt er u.a. für den Kölner Stadtanzeiger und ist Jurymitglied des Kölner Theaterpreises.