Wenn das Private politisch wird

Gesellschaftliche Phänomene beleuchten und hinterfragen – das ist der Anspruch des Kölner Analogtheaters, das in interdisziplinären Projekten unter der Leitung von Dorothea Förtsch und Daniel Schüßler Dokumentarisches und Biographisches miteinander verbindet.
Seit seiner Gründung im Jahre 2004 ist das Analogtheater nicht mehr aus der Freien Szene Kölns wegzudenken. Unter der Leitung der Performerin und Dramaturgin Dorothea Förtsch und des Regisseur Daniel Schüßler entwickelt die Gruppe im Kollektiv interdisziplinäre Projekte, die ihren Schwerpunkt in der Arbeit mit dokumentarischen und biographischen Material haben. Dabei versteht sich Analog immer auch als soziales, politisches Projekt. Im Miteinander etwas für andere zu tun, lautet der Anspruch. Kunst nicht als Selbstzweck zu begreifen, die sich in ihrer Schönheit gefällt, sondern das Wir in einer Gesellschaft zu suchen, die zunehmend das Ich und seine Selbstoptimierung in den Vordergrund gerückt hat. So gelingt es Analog immer wieder, mit ihren ästhetisch anspruchsvollen und herausfordernden Arbeiten gesellschaftliche Phänomene zu beleuchten und zu hinterfragen.
„German Ängst – Angst essen Angst auf“ (2016)
Wie etwa in „German Ängst – Angst essen Angst auf“ aus dem Jahre 2016. Die Erzeugung und Instrumentalisierung von Angst erlebte spätestens seit den gestiegenen Flüchtlingszahlen 2015 eine traurige Hochkonjunktur. Dass der deutsche Begriff der „Angst“ sogar Eingang in die Sprache der Welt fand und die „German Angst“ zum feststehenden Begriff wurde, lag allerdings nicht an den damaligen Umständen, sondern ist historisch verankert mit der Katastrophe zweier Weltkriege, bei dem vor allem die Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust traumatische Auswirkungen auf das Kollektivbewusstsein hatte. So spürt denn auch Analog der aktuellen Angst-Konjunktur im tieferen soziokulturellen Kontext nach: Wie reagiert der Einzelne auf Angst und welche ansteckenden Gruppendynamiken löst eine solche Angstmacherei aus? Mysteriös und mythenbeladenen, mit Gustav Mahler als musikalische Grundierung, schreitet das Ensemble dabei durch den deutschen Seelensumpf. Auf der Bühne wabert es in Gestalt einer riesigen Gebärmutter, deren Plazenta ein Wesen füttert, das den Deutschen – hier sechs graue Gestalten mit Partyhütchen und Pickelhaube – mächtig Angst einjagt. Von außen herangetragene Angst-Szenarien bauen sich in diesem psychedelischen Parforceritt auf und werden mit archaischen Aggressionsritualen beantwortet. Hysterie steigert sich ins Maßlose, Gewaltsignale werden endlos wiederholt, bis förmlich bei den Aggressoren die Luft ausgeht und der Lärm in Larmoyanz verpufft. Angriff, Flucht oder ohnmächtiges Erstarren, die intuitiven Konsequenzen einer Angstkonfrontation, werden hier in sinnlichen Szenarien zur Schau gestellt.
„Nur Utopien sind noch realistisch“ (2017)
Wie sich in privaten Biographien gesellschaftliche Prozesse widerspiegeln, das beleuchte Analog 2017 exemplarisch in der mit dem Kölner Theaterpreis ausgezeichneten Arbeit „Nur Utopien sind noch realistisch“. Ein Hauch von Fernweh weht hier über die Bühne. Auf einem weißen Berg, der trotzig den Raum einnimmt, schimmert grünbläulich das Nordlicht des Polarkreises. Zwei finnische Tannen trotzen tapfer dem Wind. Es ist Rosis Traum, der da auf die weiße Fläche projiziert wird. Der Traum ist aus. Mit 58 Jahren, stark seh- und gehbehindert, war die Frührentnerin aus Düsseldorf in den hohen Norden nach Finnland gezogen. Zweieinhalb Jahre hatte sie am Polarkreis gelebt, bis ihr das Geld ausging und sie nach Deutschland zurückkehrte. Zehn Jahre später bleibt die Sehnsucht nach einem anderen Leben in der Ferne. Eine Utopie, die nur noch im Theater auf der Bühne Gestalt annehmen kann. Mit Rosi gehen die vier Schauspieler*innen auf eine Reise durch ihr bewegtes Leben. Eine Nahkriegsbiographie nimmt in Wort und Spiel Gestalt an. Mal leihen die Akteur*innen Rosi ihre Stimme, mal sprechen sie über sie, dann wieder wechselt das Quartett in den Interview-Modus, stellt Fragen und gibt Antworten. Immer wieder durchforstet Regisseur Daniel Schüßler Rosis Leben nach Rissen und Bruchstellen, wo im Privaten das Gesellschaftliche durchschimmert. Dabei bedient er sich auch der Fiction, wenn er über Rosis Bekannte in Skandinavien namens Ulrike den Bogen schlägt zu Ulrike Meinhof und deren Apell aufgreift, im Dreiklang von Protest, Widerstand und Revolte das System zu verändern. Kleine Schritte, wie Rosi sie macht, wenn sie mit ihrem Krückstock und nur noch 30% Sehstärke auf dem rechten Auge, sich auf die Straße daheim in Düsseldorf begibt, sind bei Daniel Schüßler die Antwort auf Agonie und Angst. „Für müde Füße mag jeder Weg zu lang sein“, wie es bei Georg Büchners „Leonce und Lena“ heißt, dessen Zitat gleich mehrmals am Abend widerholt wird, aber Aufgeben ist bei dieser liebevollen Heldinnengeschichte keine Alternative. Am Ende steht dann die echte Rosi auf der Bühne, die von den Schauspieler*innen in eine finnische Winterlandschaft verwandelt wurde. Ein bewegender Moment von zärtlich, zauberhafter Schönheit.
„Geister ungesehen – Ein Deutsches Trauma“ (2020)
Mit „Geister ungesehen – Ein Deutsches Trauma“ griff Analog erneut das Thema Angst auf und die fatalen Folgen, wenn sie sich kollektiv und irrational manifestiert, wie in dem Städtchen Demmin im Jahre 1945. Die Angst der Bevölkerung vor der Rache der anrückenden Roten Armee wuchs hier, befeuert durch Nazipropaganda, ins Uferlose. In den ersten Tagen des Mais 1945 nahmen sich hier bis zu eintausend Bewohner*innen das Leben. Dass bis heute eine Aufarbeitung der Ereignisse nur teilweise stattgefunden hat, lässt Demmin nicht zur Ruhe kommen. Jedes Jahr marschieren am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, Neo-Nazis durch die Stadt, die die damaligen Ereignisse für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das Ensemble um Regisseur Daniel Schüßler bereiste im Sommer 2020 die Stadt, sprach mit Zeitzeug*innen und drehte vor Ort einen Film über ihre Spurensuche. Auf zwei großen Leinwänden sind die Bilder zusehen, während unten im Theaterraum der Studiobühne die drei Performer*innen Dorothea Förtsch, Lara Pietjou und Ingmar Skrinjar agieren. Hier bestimmt eine große weiße Röhre die Bühne, die wie ein Zeittunnel Vergangenheit und Gegenwart zusammenführt. Zu Anfang ist Daniel Schüßler im Off zu hören. Er beschwört das Bild eines großen Felsbrockens, der wie ein Damoklesschwert über der Stadt schwebt, und bei Nichtbeachtung an Gewicht noch zuzunehmen droht. Unter dieser imaginären Last, treffende Metapher für das unbewältigte Trauma, entwickelt sich in der nächsten Stunde ein hochkonzentriertes multiperspektivisches Theatererlebnis. Im perfekt aufeinander abgestimmten Einklang von großartigen Filmbildern (Daniel Schüßler, Thomas Vella), einer stimmungsvollen Musik (Ben Lauber) und dem eindringlichen Spiel und Vortrag der Akteur*innen werden hier Geschichte und Gegenwart Demmins vor den Augen der Zuschauer*innen zum Leben erweckt. Das Stück liefert wertvolle Denkansätze, wie ein Genesungsprozess aussehen könnte. Es ist keine Opfer-Täter*innen Abrechnung, sondern ein mitunter sehr persönlicher Blick auf die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart und wie sich ein Trauma über Generationen weiter vererbt.
„Camping Paraíso** – Über das (Sterben) Leben“ (2021)
Mit „Camping Paraíso** – Über das (Sterben) Leben“ erhielt Analog 2022 bereits zum zweiten Mal für eines ihrer „Fiktionalen Biopics“ den Kölner Theaterpreis. Die Geschichte des dramatischen Verkehrsunfalls, der dem Essener Comedyautor Dirk Roß im Mai 2020 widerfuhr, wurde in der Corona-Zeit von Analog zuerst in einem vielbeachteten Film verarbeitet. Über Monate pendelte Dirk Roß im Koma liegend zwischen Leben und Tod, nachdem ihm ein Auto die Vorfahrt nahm. Dieses Verharren in Zwischenwelten, über das der Autor nach seinem Erwachen in Interviews Auskunft gab, wird zum Ausgangspunkt des Films, der wiederum ein wesentlicher Bestandteil der späteren Theaterinszenierung ist. Eine unter Wasser gesetzte Fläche bildet das gelungene Verbindungsglied zwischen Leinwand und Bühne auf der die Schauspieler*innen agieren. Wie mystische Figuren aus verschiedenen Kulturkreisen tragen sie Masken: Anubis, der altägyptische Gott der Totenriten ist zu sehen, ein Hase steht für das Leben und die Geburt, der Totenkopfschwärmer wiederum symbolisiert das Vergehen der Zeit und die Zerbrechlichkeit des Lebens. Im Hintergrund bebildert der Film den dramatischen Parcours des Überlebenskampfes des Patienten mit theatralischen Szenen, die sich zwischen einer weitläufigen Meerlandschaft und der Enge des Krankenbettes hin und her bewegen. Auf der Bühne greifen Dorothea Förtsch, Lara Pietjou und Ingmar Skrinjar mit Sprache, Spiel und choreographischen Elementen das Filmgeschehen auf und verleihen ihm eine mehrdimensionale Ebene. Während der gesprochene Text vor allem die verschlungenen Gedankenwege des Kranken offenlegt, blickt im Film die Kamera (Tommy Vella) von außen auf die Situation. In der Interaktion mit der Bühne entsteht hier ein facettenreiches Spannungsfeld zwischen mythisch aufgeladenen Bildern physischen Leidens und einem Bewusstseinsstrom, in dem bedrückende Alltagssorgen und existenzialistische Überlegungen gleichberechtig nebeneinander Platz finden.
„SHIT(T)Y Vol.1. –Straße. Laterne. Wohnblock.“ (2022)
Vom Biopic zum City-Pic bewegt sich Analog in seiner bislang letzten Arbeit „SHIT(T)Y Vol.1. –Straße. Laterne. Wohnblock.“ Kein Geringerer als der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) diente als Vorbild für die Streifzüge durch die Stadt Köln, bei denen die gesammelten Eindrücke multimedial festgehalten und direkt beschrieben werden. Ganz so zornig und unerbittlich wie bei Brinkmann fällt 60 Jahre später das multisensorische City-Pic von Analog nicht aus. Beobachten und weniger bewerten, scheint das Credo gewesen zu sein. Gesammelte und in der Performance multimedial wiedergegebenen Eindrücke und Emotionen, die sich ihrer Subjektivität stets bewusst bleiben. Die Performer*innen hatten im Entstehungsprozess des Stückes subjektive Entdeckungs- und Wahrnehmungstouren durch die Straßen und Plätze der Stadt unternommen. Jetzt fließen in der performativen, musikalischen und visuellen Wiedergabe ihre Beobachtungen, ihre persönlichen Empfindungen und die topografische Erfassung des Stadtraums ineinander. Persönliches mischt sich hier übergangslos mit Zitaten aus der aktuellen Stadtgeschichte. Es entsteht eine multimediale, sinnliche Collage, die durch die poetische Sprache, dem choreographischen Spiel der Akteure und dem Einsatz von computergenerierten Visuals (Michael Schmitz) gleichermaßen vertraut wie verfremdet daherkommt. Eine intensive, sensorische Symphonie der Stadt, musikalisch flankiert durch die Soundcollage des Berliner Musikers Ben Lauber, Köln-spezifisch, aber auch universell und gleichzeitig sehr persönlich durch die eigenen Assoziationen, die das performative Gesamtkunstwerk in jedem einzelnen freisetzt.