Portrait, Tiny Residencies 28.12.2022

CO2-frei on Tour

CO2-frei on Tour
© Lukas Marvin Thum

Im Wasserschloss Reelkirchen und in der SoLaWi Dalborn erprobt das Maskentheater TheatreFragile sein Konzept CO2-freier Theatertouren. Mit ihrer Aufführung und ihren Maskenbau-Workshops legen die Künstlerinnen einen besonderen Fokus auf Partizipation.

Es ist Anfang November. Als ich ankomme, ist es schon dunkel. Es ist ein bisschen gruselig hier draußen auf dem Land. Nach kurzem Fußweg gelange ich zum Hauptgebäude des Wasserschlosses Reelkirchen, mir öffnet die Schlossherrin Sigrun Brunsiek. Im Schloss ist es hell und warm und das Entré mutet altmodisch herrschaftlich an, mit einer Holztreppe, die außen an den Wänden entlang nach oben führt. Frau Brunsiek gibt mir eine Tour durch die erste Etage, wo derzeit die Residenz stattfindet. Hier gibt es einen Probenraum, ein Badezimmer und eine Küche, außerdem zwei Durchgangszimmer, eines davon ist das „Tapetenzimmer“. Die Tapete ist von 1810 und zeigt eine Landschaft in braun und dunklen Grüntönen. Sie darf nicht angefasst werden. Im Wasserschloss koexistieren historisch und virulent, aktuell, lebendig ganz selbstverständlich.

Kurze Zeit nach mir treffen die vier Künstlerinnen Luzie Ackers, Marianne Cornil, Janna Schaar und Lucy Flournoy vom TheatreFragile im Wasserschloss ein. Sie sind gut gelaunt, die Begrüßung ist herzlich. Sie laden mich zum Essen ein, es gibt Bratkartoffeln, Salat und Fisch aus einem regionalen Laden. Die vier kennen sich hier aus und scheinen schon gut integriert zu sein. Hier in dieser Residenz wollen sie ihre Idee der CO2-freien Touren über das Land erproben und die Partizipation in den Mittelpunkt stellen. Dafür haben sie beim Investitionsfond Geld für E-Lastenräder beantragt und erhalten. Jetzt kann es also losgehen.

Das TheatreFragile hat einen vollgepackten Stundenplan. Sie kutschieren das Bühnenbild für das Stück „Anton, Luka und Benjamin“ und Materialien für Workshops in ihren Lastenrädern von Ort zu Ort. Das Stück spielen sie im „Hort im Paradies“ in Blomberg. Ein Hort des Deutschen Kinderschutzbundes. Die Residenz führt das Theater nicht nur ins Wasserschloss Reelkirchen, sondern auch in die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) Dalborn. Schon seit längerem ist der Klimawandel ein wichtiges Thema für das TheatreFragile. In der Produktion „Are you ready?“ thematisieren sie die Lücke, die zwischen unserer Informiertheit über den Klimawandel und unserem täglichen Handeln klafft. Im Zuge dieser Thematik entstand die Verbindung zur SoLaWi Dalborn. Innerhalb der „Tiny Residency“ zeigen sie auch hier ihr Kinderstück „Anton, Luka und Benjamin und geben einen Maskenbau-Workshop. Gemeinsam mit ihren jungen Teilnehmer*innen bauen sie Tiermasken aus Pappe.

Das Stück „Anton, Luka und Benjamin“ haben sie schon seit 2013 im Programm. Weil Kinder während der Corona-Pandemie am meisten zurückstecken mussten und gelitten haben, haben die Künstlerinnen des TheaterFragile in den vergangenen zwei Jahren die Kinder nochmal in ihren Fokus gerückt und speziell für sie Aufführungen und Workshops angeboten. In Projekten wie „body public space“, „nah dran – mittendrin“ und „Resonanzen“ beschäftigen sie sich kontinuierlich mit dem öffentlichen Raum. Das Thema der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Stadtentwicklung ist ihnen wichtig und soll weiterverfolgt werden.

Ich darf Lucy Flournoy und Marianne Cornil beim Proben für die Aufführung im „Hort im Paradies“ zusehen. Sie proben eine Szene, in der ihre Figuren gemeinsam einen hohen Turm aus Pappschachteln bauen. Bis jeder Blick und jede Geste sitzt, sie die innere Haltung der Mitspielerin bei allen Aktionen durchgegangen sind, vergeht einige Zeit. Es macht großen Spaß zu sehen, wie sie in die Figuren schlüpfen, wie sich ihre Körperlichkeit verändert und sich ihre Gesten vergrößern. Alles gewinnt an Bedeutung und die Wortlosigkeit der Figuren legt das menschliche Miteinander unters Brennglas.

Geschichte des TheatreFragile

2006 haben Luzie Ackers und Marianne Cornil das TheaterFragile gegründet. Cornil und Ackers studierten Mime an der „Etage – Schule der Darstellenden Künste” in Berlin. Von Beginn an zog es sie in den öffentlichen Raum, wo sie mittels ihres Figurentheaters in den Austausch mit den Bewohner*innen kamen. Sie wählen Themen, die sie als gesellschaftlich relevant empfinden. So entstanden Arbeiten zum Thema Flucht und Exil, zum Thema Zuhause, aber auch immer wieder Recherchen über Stadtteile und den öffentlichen Raum. Am Anfang der Stücke stehen immer Interviews mit Expert*innen zum jeweiligen Thema und Klangrecherchen in den Stadtteilen.

Die Masken baut Luzie Ackers selbst. Im Laufe der Zeit habe sie bestimmt 110 Masken gebaut, sagt sie. Diese sind immer asymmetrisch, weil sie so ein größeres Spektrum an Emotionen sichtbar machen. Aus Papier und Leim werden sie gefertigt und in ein Negativ hineingearbeitet, dadurch bekommen sie etwas Ledernes. Dass sie aus Papier sind, ist im Endresultat gar nicht mehr sichtbar. Ackers versucht die Masken für ihre Figuren immer so zu gestalten, dass sie etwas über das jeweilige Thema erzählen. Für die Produktion „Wir treffen uns im Paradies“ über Flucht und Exil im Jahr 2008 entstanden Figuren ohne Mund und Nase, eher Schattenfiguren einer Gesellschaft. Figuren, die nichts erzählen können oder denen nicht zugehört wird. In „Home“ ging es um das ganz ursprüngliche Gefühl von Zuhause, dafür hat Ackers eine Familie gebaut und Menschen mit Tieren gekreuzt. Es geht also um eine Art Instinkt, ein Grundbedürfnis, das uns alle eint.

Der Residenzort – Wasserschloss Reelkirchen

Das Wasserschloss Reelkirchen haben Sigrun Brunsiek und ihr Partner Josef Spiegel 2013, nach langem Leerstand und im sanierungsbedürftigen Zustand gekauft. Schon damals hatten sie den Plan hier einen Kulturstandort aufzubauen. Vorher arbeiteten sie für die Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, das Bedürfnis etwas Eigenes aufzubauen brachte sie nach Reelkirchen. Sie gründeten einen Verein zur kulturellen Nutzung des Wasserschlosses. Mithilfe von Denkmalpflegemittel begann die Sanierung, 2020 konnten sie in die untere Etage des Haupthauses einziehen.

Das Hauptgebäude des Wasserschlosses Reelkirchen ist von 1755, die Anlage, auf der es erbaut wurde, ist aus dem 16. Jahrhundert, wie auch die Grabenanlage. Ein alter Balken aus einem anderen Gebäude wird derzeit mit im Torgebäude eingebaut, er trägt die Jahresinschrift 1550. Obwohl alles noch im Rohbau ist, kann man sich das Wasserschloss schon gut als Künstler*innengemeinschaft vorstellen. Die Gartenpartys, das abendliche Veranstaltungspublikum mit einem Gläschen Wein, die Ausflugsgäste, die im Café eine Kleinigkeit essen, ich sehe sie alle vor meinem inneren Auge.

„Das Bewusstsein, dass Kunst auch raus aufs Land gehört, wächst“, stellt Brunsiek fest. Von 2019 bis 2021 vergab das Ministerium für Landwirtschaft Gelder für Landkultur. Jetzt wird das Wasserschloss gefördert durch das Programm Dritte Orte des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW und durch die Förderung zur Dorferneuerung von der Bezirksregierung. Sie renovieren gerade noch das Torhaus, das gegenüber vom Hauptgebäude liegt. Dort soll ein Café entstehen, zwei Künstlerapartments und ein großer, barrierefreier Veranstaltungsraum. Viel findet im Sommer auch draußen im Park statt. Ihr Schwerpunkt ist eigentlich die bildende Kunst. Das Förderprogramm „Tiny Residencies“ hilft den Fokus auch auf den Bereich der darstellenden Künste zu legen.

„Dass man irgendwo einen Theaterraum hat und sich dort etwas anschaut und wieder weggeht, finde ich nicht mehr so interessant. Das betrifft Theater, aber auch Kunstvereine. Wir wollen mehr in die partizipative Richtung, in die Gesellschaft reingehen. Das Experimentelle liegt uns eher. Das finden wir zeitgemäßer und interessanter“, beschreibt Brunsiek ihr Interesse. In der Gemeinschaft leben derzeit elf Menschen. Künstler*innen, aber auch andere Leute. „Im ländlichen Bereich ist es schön Austausch und Gleichgesinnte zu haben“, so Brunsiek.

Stabile Netzwerke erarbeiten

Das TheatreFragile hat seinen Sitz in Detmold. Von dort aus arbeiten sie schon länger daran, Partnerschaften im ländlichen Raum zu stabilisieren. „Man muss sich wegbewegen von dem Gedanken, dass die Menschen hier im ländlichen Raum nur auf Kunst gewartet haben, dass hier nichts passiert und dass man dann automatisch ein Publikum hat“, sagt Cornil. So haben sie auch schon länger Kontakt zur SoLaWi Dalborn, dort haben sie schon Workshops gegeben und in der dazugehörigen Kulturkneipe geprobt. Nun ist Dalborn natürlich auch eine Station auf der Erprobungsfahrt der Lastenräder.

Ortsspezifische Stücke erarbeitet das TheaterFragile anhand von Biografien. „Out of bounds“ zum Beispiel entstand anhand von Nachkriegsbiografien, in den Parcours setzten sich die Besucher*innen mit Themen wie Hausbeschlagnahmung auseinander. Das Umfeld und die Architektur werden in solchen Parcours immer mit einbezogen. „Im öffentlichen Raum ist die Nähe zum Publikum extrem. Es gibt keine vierte Wand, der Übergang ist fließend. Das Publikum wird zu Akteur*innen, da ist keine Distanz“, sagt Ackers.

Die Idee in Lippe CO2-freie Landtouren zu machen, entstand ebenso durch die Beschäftigung mit dem Klimawandel. Sie wollen von Dorf zu Dorf reisen und ihre Arbeit in den vorhandenen Kulturstätten zeigen oder in Form von Workshops vermitteln. Diese „Tiny Residency“ war der Auftakt, ab 2023 sollen diese Touren fester Bestandteil der Arbeit des TheatreFragile werden. Das Wasserschloss Reelkirchen gehört nun auch zu ihrem Netzwerk, da sie in ihrer Produktion „Wie du in den Wald hineinrufst…“ mit ihrem Publikum auf Erkundungstour in den Wald gehen und Sigrun Brunsiek diese thematische Setzung sehr interessiert. Ein erneuter Aufenthalt im Wasserschloss Reelkirchen ist dann wahrscheinlich bald in Planung.

Für die kommenden Jahre hat das TheatreFragile die Konzeptionsförderung des Landes NRW erhalten. Sie planen die Produktion „Closer“ zum Thema Einsamkeit zu realisieren. Mit dem Thema Wald wollen sie sich auch weiterhin beschäftigen, die erste Produktion hat gezeigt, wieviel es zu dem Thema noch zu erforschen und zu sagen gibt. In ihren Workshops wollen sie Masken aus recycelten Materialien bauen. Die Themen Klimawandel, Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind fester Bestandteil ihrer Arbeit und das Touren mit ihren E-Lastenrädern zeigt, wie stringent sie ihre Ideen verfolgen.

Galerie

© Lukas Marvin Thum
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Kommentare

Judith Ayuso Pereira
Judith Ayuso Pereira
ist Philologin und Tanzwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freischaffende Dramaturgin, Autorin und Vermittlerin und lebt im Ruhrgebiet.