„Dann haben wir unsere Herzen wieder zusammengeklebt“

Sie lieben uns und sie kritisieren uns. Sie sind für uns da, wenn wir sie brauchen und sie streiten mit uns: unsere Freund*innen. In Borken haben die Theatermacherin Adrienn Bazsó und der Videokünstler Felix Zilles-Perels über Freund*innenschaft recherchiert, mit Anwohner*innen gesprochen und Videomaterial gesammelt. Unsere Autorin hat die beiden besucht.
Freund*innen habe ich schon viele gehabt in meinem Leben. Zu manchen gab es engen Kontakt, von anderen habe ich wenige Male im Jahr gehört. Viele dieser Verbindungen waren kurz, einige hatten über Jahre Bestand, manche haben es bis heute. Aber was genau ist eigentlich Freund*innenschaft und was bedeutet sie mir? Ab wann ist jemand Freund*in und was braucht es, um diese Beziehung zu pflegen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Adrienn Bazsó und Felix Zilles-Perels schon seit einiger Zeit und forschen jetzt dazu während ihrer Tiny Residency im Atelier für künstlerische Angelegenheiten in Borken-Weseke.
Zu ihnen geht’s von Köln aus mit dem Zug über Essen bis nach Borken, ins Westmünsterland. Vom Bahnhof bringt mich der Bus über weite Landstraßen, vorbei an knallgelb blühenden Feldern und einer Holzmühle, in den Stadtteil Weseke. Ich muss an meine Freundin Reinhild denken, die in Borken aufgewachsen ist und mittlerweile seit einigen Jahren in Frankfurt lebt. Daran, wie sie mir immer wieder von der Herausforderung erzählt, langjährige Freund*innenschaften in ihre Heimat zu pflegen und aufrecht zu erhalten. Nicht nur aufgrund der geografischen Entfernung und sich verändernder Interessen, sondern auch wegen der unterschiedlichen Lebensrealitäten in Frankfurt und Borken.
Angekommen in Weseke, etwa 200 Meter von der Bushaltestelle entfernt in einer Kurve, gegenüber von Apotheke, Reisebüro und Tattoo-Studio, liegt das Atelier für kulturelle Angelegenheiten (AkA): ein dunkler Backsteinbau, der mit seiner großen Fensterfront und der bronzenen Brezel in der Hauswand daran erinnert, dass hier einmal eine Bäckerei ihre Waren verkaufte. Mitten im Ortskern macht das Atelier mit einem knallgelben Schriftzug in lokalem Plattdeutsch auf sich aufmerksam: „alles konn anders“ steht da an der Fassade, – alles könnte anders sein. „Wir wollen rausgehen und Kontakt zu den Bewohner*innen aufbauen, gemeinsam öffentliche Situationen schaffen und so das Zusammenleben in Weseke aktiv mitgestalten“, sagt Stefan Demming. Vor acht Jahren kam der gelernte Video- und bildende Künstler aus Berlin hierher und übernahm 2018 das leerstehende Gebäude. Von Anfang an schwebte ihm ein Ort zur Präsentation zeitgenössischer Kunst vor, so entstand die Kunsthalle Weseke.
Aufeinander zugehen
Seit Beginn der Pandemie heißt die Kunsthalle Weseke förderbedingt Atelier für künstlerische Angelegenheiten, kurz „AkA“. Künstler*innen aus Berlin oder Leipzig, aus Köln oder dem münsterländischen Umland kommen zum Arbeiten und stellen ihre Werke in den weiten Schaufenstern aus. „Zwar besteht hier im ländlichen Raum kein kulturelles Überangebot, wie in Berlin, – wir werden also zwangsläufig wahrgenommen – aber die Berührungsangst der Menschen gegenüber dieser Art von Kunst ist viel höher. Diese Schwellenangst möchte ich abbauen.“ Gleichzeitig wolle er der Verödung von Dorfkernen entgegenwirken: „Wir beklagen den Mangel öffentlichen Lebens und die Abschaffung des Einzelhandels, aber gleichzeitig schauen wir den ganzen Tag Netflix und kaufen nur noch bei Aldi oder Amazon ein. Mit unseren Veranstaltungen wollen wir die Menschen einladen und neugierig machen auf das, was vor ihrer Haustür passiert.“
Die Tür des AkA steht weit offen an diesem sonnigen Samstagvormittag Ende Oktober. „Nicht immer trauen sich die Passant*innen gleich hineinzukommen, aber sie bleiben stehen, unterhalten sich über das, was sie hier sehen und kommen vielleicht zur übernächsten Veranstaltung“, so Demming. Aus dem Inneren höre ich jetzt die Stimmen von Adrienn Bazsó und Felix Zilles-Perels, die ich bisher nur vom Telefon kenne. Heute proben sie für ihre Videopremiere am Abend, das erste Ergebnis ihrer Residenz hier. Fünf Tage lang haben sie mit Menschen aus Borken über Freund*innenschaft gesprochen, haben Bewegungen ausprobiert und sich in Nähe und Distanz zueinander versucht.
Kennengelernt haben die beiden sich schon 2014 bei einem Projekt am LOFFT Theater in Leipzig zum Thema „Sammeln“. Auch damals führten sie Interviews mit Bürger*innen und entwickelten auf Basis des gewonnenen Materials eine Performance. Zu dieser Zeit studierte Adrienn Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin (UdK); bei Felix entstand gerade der Wunsch, intensiver mit nicht-professionellen Gruppen zu arbeiten. Als er Anfang dieses Jahres seine Diplomarbeit an der Kunsthochschule für Medien Köln entwickelte, war Adrienn gleich mit von der Partie. Sieben Jahre lang hatte sie zu diesem Zeitpunkt den Jugendclub an der Staatsoper Berlin geleitet und sich seit ihrem Schauspielstudium in Ungarn und der anschließenden Zeit an der UdK Berlin zwischen Theater und Performance, zwischen Physical Theatre, Musik und Videokunst bewegt.
Für seine Diplomarbeit richtete Felix, gemeinsam mit anderen Performer*innen, einen Treffpunkt zum Thema Freund*innenschaft auf einer Probebühne in Köln-Nippes ein. Dort wurden Workshops gestaltet, in denen es um Konflikte, Sorgen und Verlust ging. Die Beteiligten wurden zu Beobachter*innen ihres eigenen Spiels und entwickelten Aufgaben, die sie dann performativ umsetzten: „Das war ein sehr schöner Prozess: Zwar hatte Felix den Hut auf, aber alle konnten etwas dazu geben. Dieses Arbeiten hat mir sehr gut gefallen“, erzählt Adrienn. Im Frühjahr 2022 kam das Projekt zum Abschluss, seit September studiert Felix Theaterpädagogik an der UdK. „Ich arbeite dokumentarisch und nutze dafür performative Strategien. Der Wechsel zur Theaterpädagogik bringt nochmal eine ganz andere Sprache hinein.“
Schnell war klar, dass die beiden Künstler*innen in Borken ähnlich forschen würden, wie in Leipzig und Köln. „Wir reden ständig über romantische Beziehungen oder die Beziehung zu unseren Eltern, aber kaum über die Beziehungen zu unseren Freund*innen, obwohl es auch da eine Menge Konfliktpotential gibt“, so Adrienn. Für ihre Residenz hätten sie deshalb nach einem Ort für Begegnung und Austausch gesucht, das AkA mit seinen großen Schaufenstern habe sie von Beginn an angezogen. „Als wir hierherkamen haben wir schnell gemerkt, dass wir trotzdem nicht so einfach in Kontakt mit den Bewohner*innen kommen, wie wir uns das zunächst gedacht haben“, erzählt Felix. „Einmal haben wir sogar überlegt, vor dem Atelier Eis zu verteilen, aber dann hat es stark geregnet und wir haben die Idee wieder verworfen.“

© Stefan Demming
„Ich würde sagen, es reicht auch ein Freund, aber mehrere Freunde sind halt schöner!“
Stefan Demming habe deshalb den Kontakt zum örtlichen Jugendtreff hergestellt. „Da sind wir einfach vorbeigegangen und es entstanden wunderbare Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen über Freund*innenschaft. Sie haben gerne geantwortet und waren sehr neugierig. Manche ihrer Gedanken waren so weise, ich selber dachte immer wieder: Es hat mich dreißig Jahre gekostet, das so zu sehen“, sagt Adrienn und muss lachen. Als sie anschließend auf dem Marktplatz von Borken und in der näheren Umgebung des Ateliers unterwegs waren, sei es schwieriger gewesen. Berufstätige und Renter*innen lehnten das Gespräch meist ab. Also nutzten sie die gemeinsame Zeit für Bewegungsarbeit und Textentwicklung. In dem achtminütigen Video, das sie am Abend als erstes Ergebnis ihrer Residenz präsentieren werden, sieht man die beiden Künstler*innen auf einer weiten grünen Wiese: Langsam gehen sie aufeinander zu, das Gras unter ihren Füßen wiegt sich dabei im Wind. Eine*r von beiden wendet sich ab und wechselt die Richtung, geradewegs zu auf die lange Allee am Horizont. Als sie wieder zueinander finden, bleiben die beiden vor einander stehen, umarmen sich – sie hätten auch in eine andere Richtung gehen können.
„Ich finde, die Freundschaft hört nie auf. Wir hatten mal einen krassen Streit, aber dann haben wir uns wieder befreundet. Da hat unser Herz einmal knack gemacht und dann haben wir es wieder zusammengeklebt“, hört man eine Kinderstimme aus dem Off. Währenddessen wenden die Künstler*innen sich im Video erneut voneinander ab – als sie sich wieder zueinander drehen, treffen sich ihre Blicke. „Man braucht nicht so richtig viele Freunde, man braucht auch nicht zu wenige, macht braucht so viele, dass man eine Gemeinschaft hat“, hört man eine andere Stimme überzeugt.
„Das Performen und Tanzen auf den Feldern war für mich eine ganz neue Entdeckung“, sagt Felix, „diese Weite schafft ein anderes Gefühl, als es im öffentlichen Raum in Städten entsteht“. Auch beim Schreiben habe sich diese Freiheit bemerkbar gemacht. Genauso wie die Idee, dass Freund*innenschaften im Gegensatz zu familiären Verbindungen etwas frei wählbares seien: „Wenn du keine Freunde hast und ich keine Freunde habe und wir uns einmal im Monat treffen, dann könnten wir anderen sagen, dass wir einen Freund haben“, sagt Felix dann auch auf dem Video und schaut uns in die Augen. „Wenn du nicht weiterweißt und ich gerne so tue als wenn ich es wüsste, dann könnten wir uns wichtig werden.“
Was kann ein*e Freund*in alles sein? Welche Beziehungsformen gibt es und was will ich investieren? Zu diesen Fragen könne jeder Mensch etwas sagen, aus manchen sprudele es nur so heraus. Deshalb wollen die beiden nach ihrer Residenz weiterforschen: zu Friendship with Benefits und Freund*innen, die gemeinsam Kinder bekommen, oder zu Polyamorie. „Uns fasziniert auch der Gedanke, dass Freund*innen im Alter zusammenziehen und ihr Leben miteinander teilen, wenn die Partner*innen verstorben sind. All das sind Konzepte von Freund*innenschaft, Liebesbeziehung und Familie, die auch künstlerisch unglaublich spannend sind. Genau wie es diese Ideen und Konzepte brauchen, möchten auch wir kontinuierlich daran arbeiten.“