Dating, Boybands und Gemüse

Das Performancekollektiv notsopretty aus Bochum tourt mit seiner zweiten Produktion gerade durch Deutschland. In „BOYBAND“ hinterfragen sie die Vorstellungen von Männlichkeit. Ihre nächste Arbeit, ein Musiktheaterprojekt, widmen sie der Kartoffel und verhandeln dabei auch das Thema Kolonialismus.
notsopretty – ein außergewöhnlicher Name für ein Performancekollektiv. Er soll Interesse bei den Menschen wecken und das gelingt offensichtlich. Mit der Wiederaufnahme ihrer zweiten Produktion „BOYBAND“ touren notsopretty zurzeit durch Deutschland. Gleichzeitig steht schon die Planung des dritten Projekts an.
Zum Kollektiv gehören Nina, Anna Júlia und Marcel – die drei wollen nur mit ihren Vornamen genannt werden. Nina studierte im Bachelor Theaterpädagogik und macht zurzeit vor allem Regiearbeit. Für Projekte sei sie teilweise in ganz Deutschland unterwegs. Im Master studierte sie Szenische Forschung an der Ruhr-Universität-Bochum. Dort lernte sie Anna-Júlia und Marcel kennen. Anna-Júlia studierte zunächst Schauspiel. Neben dem Produzieren von Theaterperformances arbeitet sie auch als Social Media Managerin und Content Creatorin. Marcel arbeitet als Performancekünstler, Videokünstler und Produktionsassistent.
Während des Studiums haben die drei immer mal wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammengearbeitet. Schließlich beschlossen sie, das Kollektiv notsopretty zu gründen. Bei ihrer ersten Produktion im Kollektiv „Der Computer Nummer 3“ waren die drei nicht nur in den Rollen der künstlerischen Leitung, sondern standen auch selbst auf der Bühne.

© Anna Spindelndreier
Bei ihrer zweiten Produktion „BOYBAND“ blieben sie in der künstlerischen Leitung und engagierten drei männlich gelesene Schauspieler. Zweimal konnten sie „BOYBAND“ 2021 nur aufführen. „Wir haben zweimal im Ringlokschuppen Mülheim gespielt und nur jeweils vor 50 Menschen. Das war ziemlich frustrierend, diese Arbeit nicht so oft zu spielen“, berichtet Marcel. Die Einschränkungen auf Grund von Corona gaben „BOYBAND“ keinen leichten Start. Doch in diesem Jahr konnten sie mit der Förderung von „Raus ins Land“ eine Wiederaufnahme feiern.
Was ist Männlichkeit?
„BOYBAND“ hinterfragt Männlichkeiten, männliches Verhalten in Gruppen und zerstört patriarchale Regeln. Die Erkenntnisse in dieser Performance sind dabei auch nicht immer schön – notsopretty eben. Die Vorstellung verläuft wie ein Boyband-Konzert, untermalt von Musik bekannter Boygroups wie One Direction oder den Backstreet Boys, Backstage-Videos, Fan-Reaktionen und den Zweifeln. „Bin ich gut genug?“ Oder: „Glaubst du, das Publikum liebt mich?“ fragen sich die drei Boybandmitglieder (David Martínez Morente, Tim-Fabian Hoffmann, Lars Nichtvontrier) auf der Bühne.
Die Texte für die Performance seien im Entwicklungsprozess durch Improvisation und durch automatisches Schreiben entstanden. Auch theoretische Texte seien in die dramaturgische Arbeit mit eingeflossen. „Wir haben uns von verschiedenen Texten inspirieren lassen, haben YouTube Clips angeschaut und so auch die verschiedenen Musiken ausprobiert“, erklärt Marcel.
Dass sie sich mit Boybands auseinandersetzen, sei zu Beginn der Stückentwicklung noch gar nicht klar gewesen. Marcel hatte zuvor an seinem Solostück „Mansplaining“ gearbeitet, wo er sich mit seiner eigenen Männlichkeit auseinandersetzte. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich alleine nicht mehr mit diesem Thema weiterkomme und habe es dann einfach mit ins Kollektiv genommen“, berichtet er.
Zu dritt schauten sie, wie Männer sich in verschiedenen Gruppen verhalten. Marcel wollte für diese Performance, anders als bei „Mansplaining“, nicht selbst auf der Bühne stehen. Sie engagierten einen Schauspielkollegen für die Performance. Die anderen zwei männlich gelesenen Personen suchten sie über ein Casting. Mit den Schauspielern ging es dann gemeinsam in die Stückentwicklung.
Das Phänomen der Boybands
Und sie entschieden sich für die Boybands. „Wir haben uns bei der Erarbeitung des Stücks dieses popkulturelle Phänomen angeschaut, das es ja seit den 90ern gibt. Männer in Boybands können alles tun, sie können zum Beispiel auch zärtlich miteinander sein, was andere männlich gelesene Personen nicht können,“ erklärt Anna Júlia.

© Anna Spindelndreier
Sie hoffen, mit der Performance die Menschen zu bestärken, Männlichkeiten und die Vorstellungen davon zu hinterfragen. Die Reaktionen des Publikums reichten bislang weit, von Emotionalität bis hin zum Sich-ertappt-fühlen. Besonders bei einer Frage, die ein Performer gegen Ende des Stücks an das Publikum richtet: „Würden sie mich genauso glücklich ansehen, wenn wir uns genauso wie Sie jetzt aussehen und wie ich jetzt aussehe, draußen auf der Straße begegnen würden?“ Er zeigt viel Haut, trägt Hot Pants, darüber einen offenen Rock, pinke Strümpfe, Plateau Schuhe, ein aufgeschnittenes Hemd.
„Die Bühne gibt uns diesen Kunstrahmen, da können wir alles machen. Da können diese Jungs sein, wie sie wollen. Es wird wahrscheinlich nicht passieren, dass irgendjemand hingeht und denen in die Fresse haut. Auf der Straße passiert das aber schon, wie man jetzt wieder in den USA gesehen hat. Klar können wir hier alle in unserer Bubble total woke sein, aber draußen passiert trotzdem doch die Scheiße und ich glaube, es ist wichtig, sich das auch nochmal bewusst zu machen“, sagt Nina.
Dating auf der Bühne
Ähnliche Gedanken hatten sie auch bei ihrer allerersten Kollektivproduktion „Der Computer Nummer 3.“ Die Performance dreht sich um Dating-Apps und ist ein Potpourri von Szenen, gesammelten Geschichten und eigenen Erfahrungen gepaart mit Musik, Tanz und multimedialen Elementen.
In der Performance verhandelt ein Video auch das Thema Daten als nicht-heterosexuelle Person. „Diese Online-Dating-Plattformen sind für nicht-heterosexuelle Personen schon länger eine gute Möglichkeit, da Daten im Alltag einfach schwieriger ist. Es ist immer mit Angst vor Ablehnung oder auch Gewalt verbunden. Wenn zwei männlich gelesene Personen aufeinandertreffen, weißt du nie, ob die Person dir gut gesonnen ist oder nicht“, erklärt Nina. Für heterosexuelle Paare sei Online-Dating dagegen zu der Zeit, 2019, als sie die Performance entwickelten, eher verpönt gewesen. Die Grundthese, mit der notsopretty an diese Produktion herangegangen war, habe sich durch die Corona-Pandemie und die wachsende Digitalisierung des Datings also verändert.
„Der Computer Nummer 3“ zeigten sie unter anderem 2020 beim HundertPro Festival im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr. Dadurch habe sich die Kooperation mit dem Ringlokschuppen ergeben für „BOYBAND“ und auch für ihre dritte Produktion, die im Frühjahr 2024 Premiere feiern soll. Für dieses Projekt bewegen sie sich etwas weg von Dating, Männlichkeiten und Geschlechtsidentitäten. Mit dem Musiktheaterprojekt „Gemüsical“ wollen sie die Geschichte der Kartoffel erforschen. Dabei verhandeln sie Kolonialismus, koloniales Erbe und eurozentristische Erzählungen in der Ernährungspolitik. Einen ersten musikalischen Vorgeschmack für dieses Projekt planen sie bereits für März 2023. Bis dahin steht „BOYBAND“ noch einige Male auf dem Programm, unter anderem sogar als Schulvorstellung im Helios Theater in Hamm.