Portrait, Tiny Residencies 31.12.2022

Die Rettung der Innenstädte

Die Rettung der Innenstädte
© Lukas Marvin Thum

Eva-Maria Baumeister hat in der vom Leerstand bedrohten Arnsberger Innenstadt einen „temporären, performativen Conceptstore“ für alle aufgebaut. Aber funktioniert die künstlerische Vision, um sterbende Innenstädte wiederzubeleben?

Ein wunderschönes Städtchen ist Arnsberg im Sauerland, rund 70.000 Menschen leben hier. Die Weihnachtsdeko schaukelt in der Fußgängerzone, es gibt Fachwerk-Bestand, Gründerzeit-Charme und viel Denkmalschutz. Die edel sortierte, holzgetäfelte Buchhandlung ist stark frequentiert, Weinhandel, Schmuck- und Delikatessengeschäfte ebenso: Auf den ersten Blick eine gemütliche, wohlhabende Mittelstadt am 20. Dezember. Doch auf den zweiten Blick, unter der beschaulichen Adventsatmosphäre, ist auch hier der Leerstand nicht zu übersehen – mindestens fünf verlassene Geschäfte sehe ich in der rund 800 Meter langen Einkaufsstraße, die man vom Bahnhof aus über einen pittoresken Wanderpfad erreicht, den Fluss entlang rund 200 Meter nach oben.

Am Anfang dieser Einkaufsstraße liegt das ehemalige Pressehaus. Seit ein paar Jahren steht es leer. „Mal was anderes“, steht nun in bunten Großbuchstaben an den Scheiben, und natürlich der große Titel von Eva-Maria Baumeisters Projekt: „Alles, was die Zukunft rettet“. Dazu noch Termine: Eine Kleidertauschbörse. Kostenloser Gitarrenunterricht. Siebdruck für alle, Karaoke, Kaffee, Kekse. Alles, was Jugendlichen Spaß machen müsste. Nur leider ist heute keiner da.

In einer unheimlichen Leere

Innen ist der kahle Raum mit abgeschraubten Resopalplatten gemütlich geworden: Lichterketten, Sitzkissen, Sofas, bunte Notizen an den Wänden. Immer wieder liegt ein Buch herum: „Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“, etwa, oder: „Fünf Hausmittel ersetzen eine Drogerie“. Tja, was tun, wenn die ehemaligen Konsumtempel nicht mehr für die heilige Tätigkeit des Einkaufens gebraucht werden?

 „Was kann man den sich transformierenden Innenstädten entgegensetzen?“, fragt sich die Künstlerin Eva-Maria Baumeister schon seit vielen Jahren – und wollte in Arnsberg einen Feldversuch starten, den sie so formuliert: „Wie kann man diese toten Räume besser nutzen? Haben Menschen und gerade junge Leute Sehnsucht nach einem Laden zum Einkaufen – oder liegt das Bedürfnis woanders? Und kann man durch eine Nutzung, die mit den Wünschen der Stadtbewohner gefüllt ist, der Stadt wieder Lebendigkeit zurückgeben?“ Eva-Maria Baumeister ist selbst in Arnsberg geboren, wohnt heute in Köln, einer Stadt mit chronischer Raumknappheit. Ihr ist es selbst manchmal unheimlich, in Arnsberg durch die leere Innenstadt zu gehen.

Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Lena Brokinkel und der Bühnenbildnerin und Siebdruckspezialistin Lena Thelen mietete sie temporär den Laden an – der Besitzer will ihn bald wieder vermarkten als „Event-Space“ für „Hammerwurf“. Ob das die Arnsberger Innenstadt entscheidend beleben wird? Wie dem auch sei, er stimmte einer Zwischennutzung zu. Dann nahm Eva-Maria Baumeister Kontakt zum Arnsberger Jugendbegegnungszentrum auf. Dessen Mitarbeiterin, die Sozialarbeiterin und Theaterpädagogin Hanna Radischewski, war so begeistert vom Projekt, dass sie nun täglich im Laden vor Ort ist und die Kontakte zu Arnsberger Jugendlichen, Institutionen und Schulen herstellte. Auch auf Instagram und im Bekanntenkreis gab es viel Werbung. Eine Mischung aus „Kreativraumbefragungsort“ und „Wunschbriefkasten“ soll dieser Raum nun sein, zwei Wochen lang.

 

„Viele trauen sich nicht, die Schwelle zu überschreiten“

Doch die Wortungetüme lassen vielleicht schon ahnen, dass es in diesem Stadtexperiment an manchen Stellen noch ein wenig hakt. Zwar kamen schon drei Schulklassen her, doch so richtig privat wiedergekommen ist kaum jemand – nur drei Schüler*innen aus der 8. Klasse einer Förderschule verbringen fast täglich ihre Nachmittage im neuen Ladenlabor, lernen Gitarre von Lena, gucken Filme, bedrucken T-Shirts, hängen ab. Im Spiel Ressourcium haben sie auf die Frage „Wann warst du das letzte Mal so richtig entspannt?“ geantwortet: „Am Samstag in diesem Laden zu sein“. Nur für heute haben sie leider abgesagt. Auch von der Schulklasse, die in ihren Freistunden wiederkommen wollte, ist niemand erschienen. Die mit der Abiturklasse geplante Kleidertauschparty: Einfach so ausgefallen. Genau wie die geplante Getränke-Ecke, das Waffelbacken.

„Die Idee ist, ein Angebot zu machen und zu gucken, was die Wünsche der Jugendlichen sind“, erzählt Lena Brokinkel. Aber warum kommen sie viel weniger zahlreich als erhofft? „Alle Leute, die vorbeikommen, gucken neugierig – aber die Schwelle zum Innenraum überschreiten sie fast nie, sie scheinen sich nicht zu trauen.“ In einem seltsamen Gegensatz steht dies zu den geäußerten Bedürfnissen: „Alle, mit denen wir sprechen, sagen, dass sie sich in Arnsberg nach konsumfreien, zugänglichen Räumen sehnen, in denen etwas los ist“, sagt Eva-Maria Baumeister.

„Die Hemmschwelle ist auch bei uns im Jugendzentrum eine ganz Ähnliche“, ergänzt Hanna Radischewski. „Es gibt einige, die den Raum für sich eingenommen haben und die bringen dann Freunde mit. Wenn eine Gruppe herausgewachsen ist, entdeckt eine neue den Raum für sich. Aber es sind selten Leute da, die einfach hereinkommen. Vielleicht ist das auch ein wenig der Charakter der skeptischen Sauerländer?“ Was sie allerdings wirklich wundert, ist, dass auch der angebotene Coworking-Space nicht richtig angenommen wird: „Viele Jugendliche erzählen mir immer wieder, dass das fehlt.“

 

Schöne Zeiten oder schon wieder die Welt retten?

Aber reichen zwei Wochen überhaupt aus, um ein Angebot zu etablieren? Wenn Jugendgruppen über das Mitnehmen von Freunden funktionieren, wohl eher nicht. In Interviews haben sie Eva-Maria Baumeister erzählt, dass Räume manchmal auch tabu seien, wenn bestimmte Gruppen irgendwo hin gingen, und sie diese deshalb als besetzt empfänden– Diversität und Vermischung fänden eher nicht statt. Können Räume überhaupt angenommen werden, wenn man weiß, dass sie gleich wieder verschwinden? Immerhin waren auch Mitarbeiter vom Stadtlabor Arnsberg schon zu Besuch und waren begeistert.

„Alles, was die Zukunft rettet“ heißt das Projekt. Ziemlich hochgegriffen, haben einige der Jugendlichen vorsichtig erkennen lassen, die hier waren: „Die Idee ist gut, aber sie wirkt auch unrealistisch“, sagt eine Schülerin, „Es wirkt eher wie eine Art Werbe-Aktion, hinter der was anderes steckt.“ Außerdem erscheine es ihnen wie eine etwas anstrengende Handlungsanweisung, als würde man sich im Laden mit ökologischen Aspekten beschäftigen müssen. „Mit diesem Thema beschäftigen wir uns schon, aber wir werden wirklich von allen Seiten damit zugeworfen.“

Lieber auch mal eine schöne Zeit haben als schon wieder die Welt verändern. Und außerdem – „Ich glaube, dass man mit der Zukunft gerade jetzt in Kriegszeiten nicht unbedingt etwas Gutes verbindet“, sagt eine andere. „Wir können einfach gerade nicht sagen: Wow, Zukunft ist was Schönes.“ Eva-Maria Baumeister hat diese Interviews aufgezeichnet und spielt sie mir vor. Denn in den drei Stunden, die ich in Arnsberg bin, hat kein Mensch von außen die Ladenschwelle überschritten.

Reale Experimente und performative Enden

„Immer, wenn ich in so eine Stadtgesellschaft hinein gehe, habe ich erst ein Gefühl von Euphorie und denke dann: Ist das nicht auch irgendwie übergriffig? Wo unterstelle ich ein Bedürfnis, das vielleicht gar nicht da ist? Geht es hier darum, ein Bedürfnis zu wecken?“, sagt sie. Der Kölner Künstler und urbane Aktivist Boris Sieverts hat ihr mal gesagt, dass es in solchen Stadtraum-Interventionen auch darum ginge, „etwas hinzusetzen, von dem man gar nicht wusste, dass man es vermisst“.

Aber wie gehen die Künstler*innen anschließend damit um, dass sie ein Bedürfnis geweckt haben und weitergezogen sind? „Auf diese Fragen habe ich noch keine Antworten“, gibt Eva-Maria Baumeister offen zu – und wirkt gerade diese offene Ratlosigkeit reflektiert und glaubwürdig: Hier in Arnsberg findet gerade ein reales Experiment statt. Wie künstlerisch-ästhetisch darf, muss, kann so eine Intervention im Stadtraum gestaltet sein? Schreckt eine starke theatralische Inszenierung die Menschen vielleicht noch mehr ab? Was muss offen zugänglich, was geheimnisvoll gestaltet sein?

Am letzten Tag soll hier auch Kunst – Eva-Maria Baumeister nennt sie „performative Happenings“ – stattfinden. Bei Veranstaltungen in Arnsberg haben sie und ihre drei Mitstreiterinnen vor ein paar Tagen Flyer verteilt und Menschen persönlich eingeladen, ihren Wunsch an eine lebendige Stadt im Laden zu äußern, mit einem Mikro nach außen zu sprechen, aufzunehmen, auf einen Zettel zu schreiben.

Und auf einmal öffnet sich die Ladentür

Zwei Tage später, kurz vor Schließung, überlegt das Stadtlabor Arnsberg, das Angebot im ehemaligen Pressehaus, gemeinsam mit dem Jugendzentrum, zu verstetigen. Und Eva-Maria Baumeister, Lena Brokinkel und Lena Thelen inszenieren ihre Abschlussperformance: Sie werfen die Nebelmaschine an, illuminieren den Raum, der nach außen nun strahlt wie ein leuchtender, kuscheliger, undurchdringlicher Wattebausch. Die Lautsprecher stehen draußen und Eva hält einen über die ganze Straße schallenden Monolog: „Ich bin ein freier Raum. Ich bin für dich da. Womit würdest du mich füllen? Gibt es etwas, das uns alle verbindet?“ Man sieht innen kaum noch die Hand vor Augen, die bunten Karten, die Siebdruckmaschine, die Bücher, die Kissen, das kunterbunte Durcheinander zum Mitmachen sind aus dem Blick verschwunden.

Und auf einmal öffnet sich die Ladentür, wagen sich erstmals ein paar Menschen von der Straße in den seltsam anonymisierten Space, schreiben Wünsche auf. Etwa „Ein konsumfreier Bewegungsraum“ oder „Ein lebendiger Kreativraum für eine lebendige Stadt“. Vielleicht ist es doch so: In der künstlerischen Setzung fühlen sich Passanten geschützter und mutiger als in einem Sozialraumexperiment, in dem sie wie auf dem Präsentierteller etwas „leisten“ müssen. Vielleicht ist das ein ähnlich menschlicher Reflex wie nur noch online shoppen zu gehen – es fällt leichter, da es unpersönlicher ist.

Die Erkenntnis ist spannend: Mit einer großen Vision, einem pompösen Titel, für kurze Zeit an einen Ort zu kommen, um etwas verbessern zu wollen, ist vielleicht vermessen und kann den Niedergang der Innenstädte nicht aufhalten. Aber vielleicht kann Kunst eben doch helfen, an der Transformation der Wirklichkeit mitzuhelfen: Einfach, weil sie ein Alibi verleiht, fantasievoll und groß zu denken – im geschützten Raum der künstlerischen Verwandlung.

Galerie

© Lukas Marvin Thum
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Dorothea Marcus
Dorothea Marcus
ist freiberufliche Kulturjournalistin und Theaterkritikerin u.a. für DLF, WDR, Theater heute und nachtkritik.de. 2016-2019 war sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Sie moderiert Podiumsdiskussionen, gibt Lehrveranstaltungen und ist Mitgründerin von kritik-gestalten.