Digitale Sichtbarkeit, Interview 21.11.2022

„Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist ein Menschenrecht“

Arts Impact / Un-Label
© Un-Label 2022

Die Kulturszene ist noch immer weit davon entfernt, inklusiv für alle zu sein – Un-Label möchte das ändern und engagiert sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ein Gespräch über Grenzen, teure Websites und gehemmte Kritiker*innen.

Erwachsen aus einen internationalen künstlerischen Forschungsprojekt arbeitet Un-Label seit 2013 daran, die Diversität in der Kultur zu stärken. Dabei ist den Macher*innen wichtig, Wege zu zeigen, wie Inklusion und Barrierefreiheit im Alltag des Kulturbetriebs realisiert werden kann, um jedem Menschen den uneingeschränkten Zugang zur Kultur und ihren Orten zu ermöglichen. Kultur könne hier eine Vorreiterrolle einnehmen, um die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und überholte Standards und Normen zu verändern. 

Un-Label, die auch als Performance-Gruppe eigene Arbeiten verwirklichen, benutzen in ihren eigenen Projekten die Barrierefreiheit schon lange auch als künstlerisches Mittel. So fließt mit der Erweiterung der eigenen ästhetischen Ausdrucksweise der gesellschaftspolitische Anspruch von Un-Label künstlerisch in die Produktionen ein. Dabei versteht sich die Kölner Organisation als Teil eines internationalen Netzwerkes, das durch ihr Wirken aus- und aufgebaut werden soll, um Kulturschaffende in ganz Europa in ihrem Bemühen um Barrierefreiheit zu unterstützen und zusammenzubringen. Zu diesem Zweck veranstaltet Un-Label seit Jahren Workshops, Masterclasses, Coachings, Symposien und Labs, an denen sich Menschen aus ganz Europa mit und ohne Behinderung beteiligen. Un-Label versteht ihre Arbeit auch politisch. Sie wolln in der nationalen – und internationalen Zusammenarbeit mit politischen Akteur*innen die Rahmenbedingungen für Inklusion in der Kultur neu gestalten.

2021 startet Un-Label das Projekt „Arts Impact“. Eine Online- Galerie für inklusive Kunst und Kultur, deren Sammlung fortlaufend ergänzt werden soll. Die Galerie zeigt erstmalig eine umfassende Sammlung inklusiver Kunst und Kultur. Kurze Videos stellen über 73 Werke von Künstler*innen vor. Die Arbeiten sind so vielfältig wie die Kulturszene selbst: Sie präsentieren ein breites Spektrum, von Theater und Tanz über Film und Musik bis hin zu Bildender Kunst. Ein Gespräch über das Projekt, das bisher Erreichte und die zukünftigen Ziele mit Lisette Reuter, der Geschäftsführung & Künstlerischen Leitung von Un-Label.

Welche Idee steckt hinter Arts Impact?

Lisette Reuter: Wir wollten die inklusive Kunst- und Kulturszene im deutschsprachigen Raum sichtbar machen. Die ist wahnsinnig vielfältig. Sie ist kreativ, sie ist bunt, sie ist professionell. Nur leider ist die Sichtbarkeit nicht so gegeben, wie sie sein sollte. Mit Arts Impact wollten wir eine Plattform schaffen, auf der sich die Menschen informieren können: Wen gibt es im deutschsprachigen Raum, in der Szene? Welche inklusive Kunst und Kultur wird produziert?

Arts Impact ist so aufgebaut, dass es in der Videogalerie kurze GIFs zu sehen gibt, die neugierig machen sollen. Die Clips sind vielfältig und sortieren sich ständig neu auf der Seite. So bleibt die Seite nicht statisch, sondern ist ständig im Fluss. Von den kurzen Clips klicken die User*innen dann auf die Website, die zu den jeweiligen Akteur*innen führt, um dort weitere Informationen zu bekommen. Über die Company, über den Künstler*in, über die Produktion. Manche Links führen zu Stücken, Videos von Stücken, andere führen auf die jeweiligen Websites der Akteur*innen.

Kann man ein Jahr nach dem Start schon ein Zwischenresümee ziehen?

Lisette Reuter: Zu Beginn haben wir eine deutschlandweite Ausschreibung gemacht, auf die wir eine wahnsinnig große Resonanz erhielten. Die Nachfrage nach einer solchen Plattform im Netz war immens. Aktuell sind 72 Videos darauf und durch die Förderung „Raus ins Land – Digitale Sichtbarkeit“ des Landesbüros für Darstellende Künste können wir jetzt noch weitere Videos bearbeiten. Jedes Video wird von uns und den Kollegen der Filmfirma „Leib&Seele Produktionen“ kuratiert, mit denen wir bei dem Projekt zusammenarbeiten. Allerdings war die erste Förderung zu gering, um der großen Nachfrage gerecht zu werden. Deswegen sind wir sehr froh, dass wir weitere Förderung bekommen haben, um die Plattform mit 20-30 weiteren Werken zu füllen.

Arts Impact / Un-Label

© Un-Label 2022

Ihr habt zum Start der Webseite von Arts Impact eine Social Media Kampagne gemacht. Wie sah die aus?

Lisette Reuter: Die war so aufgebaut, dass jede*r Künstler*in die Social Media Vorlage für seine Social Media Kanäle personalisieren und nutzen konnte. So war eine große bundesweite Reichweite sichergestellt. An dem Tag, an dem wir das Projekt gelauncht haben, stand das Telefon nicht mehr still und die Medien haben es sofort angenommen und sehr viel darüber berichtet.

Wenn man auf die Seiten der Akteur*innen klickt, fällt auf, dass die sehr unterschiedlich gestaltet sind. Es gibt auf der vorbildlichen Website von RoboLab z.B. ein zusätzliches Video in DGS (Deutsche Gebärdensprache) und alle Informationen kann man sich anhören. Andere Seiten haben teilweise keine Textbeiträge, die auditiv aufbereitet wurden, oder keine Erklärung in einfacher Sprache oder Gebärdensprache. Nehmt ihr Einfluss auf die jeweiligen Webseiten?

Lisette Reuter: Da haben wir leider keinen Einfluss drauf. Das würde heißen, dass wir alle Akteur*innen beraten müssten. Es bedeutet einen großen finanziellen Aufwand, barrierefreie Webseiten zu launchen und zu programmieren. Die Arbeit, die hinter RoboLabs barrierefreier Website steckt, ist extrem groß. Das hat immer mit finanziellen Kapazitäten und sehr vielen Kosten zu tun. Unsere Seite Arts Impact haben wir so barrierearm  wie möglich konzeptioniert und programmiert, zum Beispiel gibt es eine Übersetzung in leichter Sprache und eine Einführung in Deutsche Gebärdensprache. Zum ersten Mal haben auch versucht, die beiden in einem Video zu kombinieren, sodass man die leichte Sprache nicht nur geschrieben sieht, sondern dass diese von der Sprecherin im Video gesprochen wird. Durch die Verknüpfung der Medien erzielt man eine ganz andere Wirkung.

Eine intensive Beratung der einzelnen Websites der anderen Akteur:innen würde unsere Möglichkeiten übersteigen. Allerdings haben die Kurator*innen von Leib&Seele Produktionen mit allen beteiligten Gruppen Rücksprache gehalten. Dabei geht es nicht nur um Gestaltung und technische Ausführung der einzelnen Clips, sondern es findet natürlich ein Austausch statt, bei dem der ein oder andere vielleicht gute Tipps oder Inspiration zur barrierefreien Weiterentwicklung seiner eigenen Website mitnimmt.

Ihr arbeitet gerade am Ausbau des Video-Contents, um die Barrierefreiheit für Menschen mit Sehbehinderung zu optimieren?

Lisette Reuter: Das ist ein wesentlicher Bestandteil der neuen Förderung. Die Videos-GIFs basieren stark auf Bildsprache, was für blinde Menschen den Zugang natürlich erschwert. Deshalb werden wir inhaltlich alle Informationen über die Werke auch als Audiofiles hinterlegen, der für die Screenreader lesbar sind.  Durch die jetzige Förderung können nun alle Videos in Audiofiles inhaltlich beschrieben werden. Zurzeit arbeiten wir mit Hochdruck an der Audiodeskription der einzelnen Clips. Ziel ist es, dass blinde User*innen in Kürze erfahren, worum es bei den einzelnen künstlerischen Werken inhaltlich geht. Dann können sie selber entscheiden, ob sie auf die jeweiligen Websites gehen wollen, um sich weiter mit dem Stück und der Gruppe zu beschäftigen.

Ihr arbeitet als Un-Label international und für Arts Impact mit dem Anspruch den deutschsprachigen Raum abzubilden. Jetzt ist die Förderung aber auf Deutschland ausgerichtet. Was heißt das für das Projekt?

Lisette Reuter: Wir legen den Fokus natürlich gemäß der Förderung auf Projekte aus Deutschland, wohl wissend, dass in der Schweiz und Österreich auch viele spannende Akteur*innen agieren. Wir haben beschlossen, zuerst mit denen zu arbeiten, die aus Deutschland kommen. Wenn dann noch Ressourcen da sind, können wir den Schritt über die Landesgrenzen gehen. Generell wäre es schön, das Projekt langfristig weiterzuführen, weil die aktuell beteiligten Akteur*innen immer neue Arbeiten produzieren, neue Akteur*innen dazu kommen und die inklusive Kunst- und Kulturszene stetig wächst. Da ist es nur logisch, dass auch die Plattform mitwachsen sollte. Dafür brauchen wir aber weitere Förderung: Die ganzen neuen Videos müssen kuratiert und die GIFs geschnitten werden.

Ist eure Idee also, aus dem aktuellen Archiv ein Projekt zu machen, das neue Arbeiten aufgreift und somit nicht nur die Vergangenheit sichtbar macht, sondern auch in die Zukunft schaut?

Lisette Reuter: Absolut. Ein Teil ist natürlich der Archivgedanke, um die große Menge an inklusiver Kunst und Kultur der letzten Jahre festzuhalten und in Teilen weiterhin sichtbar zu machen, auch wenn die Produktionen schon abgespielt sind. Gleichzeitig gilt es, nach vorne zu gehen und den politischen Aspekt zu zeigen: „Seht her. Uns gibt es, unsere Kunst ist wichtig, sie ist professionell und qualitativ hochwertig.“ So soll Arts Impact auch ein Appell an die Politik sein, mehr für inklusive Kunst und Kultur zu tun.

Un-Label

© Un-Label 2022

Wie war denn das Feedback der Macher*innen, die in das Projekt involviert sind?

Lisette Reuter: Sehr positiv und vor allem ist das Interesse groß, mit neuen Arbeiten aufgenommen zu werden. Es gibt allerdings immer wieder Anfragen von Künstler*innen, denen wir leider absagen müssen. Teils weil die Arbeiten nicht den künstlerischen Kriterien genügen, teils weil sie nicht über eine eigene Website oder einen Videolink zum Werk verfügen. Der Gedanke, alles miteinander zu verlinken, würde so ins Leere laufen.

Könnte man diese Künstler*innen nicht auf eure anderen Tätigkeitsfelder verweisen? Zum Beispiel auf Beratungen zu Finanzierungen und Förderungen für inklusive Projekte, mit denen die Künstler*innen ihre Arbeit auf ein professionelleres Level zu heben?

Lisette Reuter: Wir versuchen immer die Leute mitzunehmen und sie auf die vielen Angebote aufmerksam zu machen oder auch zu beraten, wo es zum Beispiel Fördermöglichkeiten zur Finanzierung einer eigenen Website gibt. Hier können wir aus unserer jahrelang entwickelten Expertise schöpfen. Solches Wissen geben wir gerne weiter.

Die Sichtbarmachung von inklusiver Kunst hängt auch eng mit Rezeption zusammen. Wie lauten denn eure Wünsche an die Theaterkritik?

Lisette Reuter: Die Theaterkritik hat oft eine Hemmschwelle, aufgrund von Unwissenheit über inklusive Kultur zu berichten. So ein bisschen nach dem Motto:  „Ich kann ja nichts Negatives über Künstler*innen mit Behinderung schreiben. Das wäre moralisch verwerflich.“ Das ist natürlich Unsinn. Wir reden hier von professionellen Künstler*innen, die genauso bewertet werden möchten, wie jede*r andere Künstler*in. Wieso stellen Journalist*innen und Kritiker*innen hier so oft die Behinderung in der Vordergrund und nicht die Kunst? Natürlich macht die Behinderung einen Teil der Identität des Menschen aus. Aber der Mensch mit Behinderung darf nicht nur auf die Behinderung reduziert werden. Da braucht es noch viel Weiterbildung für Medienschaffende und für Kritiker*innen.

Und an die Theater?

Lisette Reuter: Es ist wichtig zu verdeutlichen: Bei der kulturellen Teilhabe von Menschen mit Behinderung reden wir von einem Menschenrecht, das von der Gesellschaft umgesetzt werden muss, und nicht von einer Gefälligkeit. Gerade Kultur hat eine zentrale Rolle in Bezug auf Inklusion und Teilhabe. Die freie Theaterszene war da übrigens früher am Start. Von dort sind viele Innovationen gekommen. Da sollten die großen, finanzstärkeren Bühnen von Stadt und Land nachziehen.

Genre

#digitalesichtbarkeit, Onlineplattform

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Norbert Raffelsiefen
Norbert Raffelsiefen
hat in Köln Theaterwissenschaft studiert, als das Fach noch Theater-Film- und Fernsehwissenschaft hieß. Neben kritik-gestalten schreibt er u.a. für den Kölner Stadtanzeiger und ist Jurymitglied des Kölner Theaterpreises.