Digitale Sichtbarkeit, Interview 31.12.2022

Durch Selbstoptimierung zu mehr Teilhabe: Neue Impulse für Veränderungen in einer Kontrollgesellschaft

verschwindendes ./. irgendwo / tatraum projekte schmidt
© tatraum projekte schmidt

tatraum projekte schmidt setzt sich mit gesellschaftlichen Ereignissen und Vorgängen auseinander, wählt immer einen gesellschaftspolitischen Hintergrund und nennt die entstehenden Performances “Gegenwartsabdrücke”. Mit dem Projekt „verschwindendes II ./ digitale version” entwickelte das Kollektiv dank der Förderung für digitale Sichtbarkeit eine filmische Arbeit, die an die dystopische Anthologie-Serie Black Mirror erinnert.

Seit 1999 begeistert tatraum projekte schmidt das Publikum mit seinen interdisziplinären Performances. In ihren Inszenierungen kommen Video, Theater, Tanz, Sound und Text in verschiedenen urbanen Räumen zusammen. Vor der Gründung des Kollektivs war Regisseur Michael Schmidt u.a. am Stadttheater als Produktionsdramaturg tätig. Mit tatraum projekte schmidt gründete er dann einen Raum, in dem er künstlerisch und performativ mit Menschen arbeitet, die Lust an forschender Performancearbeit haben.

Schmidt ist künstlerischer Leiter des Kollektivs und gibt im Interview einen Einblick in seine Arbeit: Ursprünglich nur analog als „verschwindendes ./. irgendwo“ geplant, schuf das Team mit seinem aktuellen Projekt „verschwindendes II ./ digitale version” eine filmische Arbeit, um dem Publikum ein multimediales und interaktives Erlebnis zu ermöglichen. Dabei wirft es existenzielle Fragen auf: Wie sieht die Zukunft unserer Gesellschaft aus und was passiert, wenn wir die Kontrolle verlieren? Ist es ethisch vertretbar, technische Steuerungssysteme auf soziale Gefüge zu übertragen? Wo fängt Manipulation an und wo endet die Freiheit?

 

Warum bekam das Stück den Titel “verschwindendes ./. irgendwo?”

Schmidt: Unsere Welt entmaterialisiert sich, obwohl die Materialität bestehen bleibt. Den gleichen Prozess haben wir auch bei dieser Performance: Wenn wir in den digitalen Bereich gehen, sind wir nicht mehr analog vor Ort. Dementsprechend sind auch die Menschen nicht mehr da. Dieses Spiel zwischen dem Verschwinden und dem Sichtbarsein ist das Thema des Stückes, daher der Titel. 

 

In welchem Kontext ist das Stück entstanden? Hat die Pandemie eine Rolle gespielt?

Schmidt: Die Inszenierung ist während der Pandemie entstanden, im Jahr 2021, steht also zwangsläufig in einem direkten Zusammenhang. Ob wir ohne Corona eine Filmversion davon geschaffen hätten? Ich kann es nicht sagen. Als wir im Jahr 1999 anfingen, Kunst zu machen, war noch alles analog. Die Entwicklung dieser Technologien hat uns eine neue Perspektive gegeben, durch die wir unsere künstlerische Vision erweitert haben – die  Pandemie hat die Entwicklung dieser  Arbeit aber sicherlich begünstigt. 

 

Worum dreht sich die Performance?

Schmidt: Im Mittelpunkt unserer Beschäftigung stand die Kybernetik, ein Forschungsbereich,  der unterschiedliche Systeme auf  eigenständige Steuerungsmechanismen untersucht. Entwickelt wurde die Kybernetik Ende der 40er Jahre, seitdem geht es ihr darum zu untersuchen, wie sich technische Systeme autonom steuern können. Ein gutes Beispiel dafür sind Thermostate: Dieses kleine Heizungssystem reguliert sich von allein, indem es die Raumtemperatur an die Heizung in einer Rückkopplungsschleife übermittelt und sich das System in der Folge selbst anpasst. Diese Art der Selbststeuerung hat man auch auf komplexere Systeme angewendet, der Großteil der Digitalisierung basiert auf diesem Prinzip. Für uns war besonders interessant, dass man in den 60er und 70er Jahren begann, es auch auf unterschiedliche soziale Systeme zu übertragen. Ein Beispiel dafür ist das Feedback in sozialen Gruppen: Die Menschen versuchen von allein, sich selbst zu optimieren, um sich im System zurechtzufinden und hier einen Platz zu finden. Wie kann also ein sich selbst regulierendes System wie unsere Gesellschaft neue Impulse bekommen, sodass Veränderungen stattfinden? Der Sozialismus scheiterte, weil es irgendwann keine Veränderungsimpulse mehr gab. Im Gegenteil nehmen demokratische Systeme ankommende Impulse auf und bleiben innovativ. Aber was für Impulse kann man geben, damit sich ein System verändert und wie geht das dann vonstatten? Um Fragen wie diese dreht sich die Performance. 

 

Und wie wird das im Stück sichtbar?

Schmidt: Diese Themen tauchen bei uns auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder auf: Zum Beispiel fragen wir uns, wie wir in eine Improvisation gehen müssen, damit sie ein sich selbstregelndes System wird? Das Video fungiert dabei als Feedbackschleife, wir nehmen Elemente heraus und entwickeln das Ganze weiter. Dabei befinden wir uns in einem permanenten Überwachungsprozess: Wir hinterfragen, wer der*die Beobachter*in ist und was für eine Auswirkung das hat. 

Wenn eine Gruppendynamik früher untersucht wurde, behauptete man, es gebe Beobachter*innen, die ganz neutral dort sitzen und das Geschehen beobachten. Aber das ist nicht so, alles hat einen Einfluss. Und damit versuchen wir, in der Performance umzugehen. Konkret bedeutet das: Die Zuschauer*innen bekommen zu Beginn einen Platz zugewiesen, der dann wieder weggenommen wird. Schon das ist eine Interaktion zwischen Performer*innen und Teilnehmer*innen. Es kann sein, dass die Person fragt: “Stehst du bitte auf?“ und dann muss sich der*die Teilnehmer*in überlegen, wo der eigene Platz ist. Die Einzelsysteme fangen also  – auch ohne Sprache – an zu interagieren. Wir verschieben wortwörtlich die Wirklichkeit. So entsteht die Manipulation, bis sich das System umstrukturiert. Die Tische sind weg, die Plätze verändern sich, die Tische werden zu einer Tischskulptur, alles ist in der Performance möglich.

verschwindendes ./. irgendwo / tatraum projekte schmidt

© tatraum projekte schmidt

 

Verwendet ihr dazu auch Texte und Sound? 

Schmidt: Ja, zum Teil sind es Originaltexte, zum Beispiel aus “Morgen werde ich Idiot: Kybernetik und Kontrollgesellschaft” von Hans-Christian Dany. Mithilfe dieser Werke fragen wir uns, wie man die Gesellschaft verändern kann. Wer darf teilhaben und wer nicht? Die meisten Leute versuchen, sich durch Selbstoptimierung so zu positionieren, dass sie immer teilhaben dürfen. Außerdem benutzten wir sechs Kameras und auch den Teinehmer*innen werden kleine Kameras auf dem Kopf installiert. Wenn deren Bilder sichtbar werden, entstehen unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen. 

 

Man kann vor Ort in Düsseldorf an der Performance teilnehmen, aber ihr stellt auch eine rein digitale Version zur Verfügung?

Schmidt: Genau, bei Youtube und auf unserer Webseite wird ein Video der Arbeit sichtbar sein.  Das konnten wir dank der Förderung für digitale Sichtbarkeit umsetzen. Im Moment befinden wir uns im Veröffentlichungsprozess. Es gibt also zwei Versionen: die ursprünglich analog stattgefundene Performance und die für jede*n zugängliche digitale Version.

 

Mit welchen Reaktionen im Publikum rechnet ihr?

Schmidt: Ich bin richtig gespannt auf das Ergebnis und die Resonanz. Im Moment kann ich es nur schwer einschätzen. Es ist wie ein soziales Experiment, deshalb ist es wichtig, die Erfahrung im digitalen Raum interaktiv anzubieten. Wenn die ersten Gäst*innen teilnehmen, werden wir beobachten, was für unterschiedliche Entscheidungen sie treffen und welche Perspektive sie wählen. Ausprobiert haben wir das mit einem Statisten-Publikum, das es gut angenommen hat. Aber das ist das Spannende daran: Man weiß nie, was kommt, diese Leerstelle ist der Arbeit immanent. Ich würde mich über eine möglichst große Offenheit beim Publikum freuen. Zu sehen, was passiert, wenn jedes Individuum auf seine Art und Weise mit der Situation umgeht. Jedes Publikum ist unterschiedlich und die Performance ist so ergebnisoffen entwickelt, dass alles passieren kann.  Leider haben wir allerdings zurzeit keine Aufführungsmöglichkeiten.

 

Habt ihr denn etwas in Aussicht?

Schmidt: Wir haben versucht, über die Wiederaufnahmeförderung Unterstützung zu bekommen, mit der wir die Arbeit auch analog zeigen können. Bisher hat es nicht geklappt.  Umso wichtiger ist es für uns und die Sichtbarkeit unserer Arbeit, dass wir diese digitale Variante schaffen konnten: Das Fördergeld haben wir unter anderem in den viertägigen Videodreh investiert und so mehrere Szenen neu und aus unterschiedlichen Perspektiven filmen können. In die Postproduktion haben wir so investiert, dass  dieses Material anschließend in einem 360°-Raum arrangiert werden konnte. Dieser konnte von den Zuschauer*innen betreten und eigenständig erkundet werden, wodurch sie ihre ganz eigenen Perspektiven auf die Performance auswählen konnten.

 

Wollt ihr mit diesen Möglichkeiten weiterarbeiten und in Zukunft ähnliche Produktionen machen?

Schmidt: Unbedingt! Wir arbeiten seit jeher mit unterschiedlichen Räumen und der digitale Raum ermöglicht uns dabei einen ästhetischen Mehrwert. Wir möchten weiter herausfinden, was für Möglichkeiten und Tücken er hat, welche Gesetze hier gelten und uns diese Welt nach und nach künstlerisch erschließen.




Genre

#digitalesichtbarkeit, Interaktiver Mitschnitt

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Milica Devic
Milica Devic
lebt seit 2016 in Deutschland und studiert Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaften, Geschichte und Kulturanthropologie des Textilen in Dortmund. Neben Tätigkeiten beim Dortmunder U oder dem Theater an der Ruhr schreibt sie für kritik-gestalten.