Portrait 09.10.2022

„Eigentlich begleitet man immer das Leben“

„Eigentlich begleitet man immer das Leben“
© Dennis Yenmez

Der Tänzer und Performer Daniel Ernesto Müller hat mit „Praktisch Galaktisch“ sein erstes Kinderstück und sein Regiedebüt gezeigt. Judith Ayuso Pereira hat sich mit ihm über Vaterschaft und neue künstlerische Herausforderungen unterhalten.

Eine gelbe Wand steht auf der Bühne, sie wird von einem Türsteher bewacht. Was verbirgt sich dahinter? Was soll da vor uns verborgen bleiben? Als der Türsteher unaufmerksam telefonierend davonschlendert, bricht jemand durch die gelbe Wand. Ein Wesen, mit blau geschminkten Augen und langen Wimpern, Plateauschuhen und schwarz-weiß gestreifter Leggins. Es beginnt zu reden, fragt sich wer und was es eigentlich ist. Ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze? Ob man eigentlich immer nur eines sein kann?

Daniel Ernesto Müller hat mit „Praktisch Galaktisch“ sein erstes eigenes Kinderstück entwickelt, auch um mit Kindern über Rollenbilder und queere Elternschaft ins Gespräch zu kommen. Und das funktioniert, die Kinder im Publikum reagieren auf Fragen und einige Aussagen, sie wollen sich mitteilen. Sie haben eine Idee davon, was wirklich sein kann und wann das Wesen Ausgedachtes erzählt, aber die Trennlinie zwischen beiden Kategorien ist noch durchlässig und damit spielt Müllers Stück.

Wir zoomen, Daniel Ernesto Müller hat dunkle, sehr wache Augen, trägt Glatze und einen Schnurrbart. Er spricht mit Begeisterung von seinen Anliegen und lacht häufig, das ist ansteckend. Müller ist Anfang vierzig, zunächst studierte er Lehramt, erst mit Mitte zwanzig ging er an die Folkwang Universität der Künste, um Tanz zu studieren.

Pioniere mit Pflegekind

Er ist Tänzer, Choreograf und Performer. Und er ist Pflegevater eines achtjährigen Jungen. Eigentlich hatte er – nach seinem Coming-out – seinen Kinderwunsch zunächst begraben. Aber nach einigen Jahren in einer Partnerschaft kam das Thema auf den Tisch und der Wunsch beider nach einer Familie war so groß, dass sie es unbedingt versuchen wollten. Es folgte eine fünfjährige Odyssee von Recherchen und Gesprächen, bis Müller und sein Lebenspartner Ben J. Riepe auf den Evangelischen Verein für Adoption und Pflegekinderhilfe e.V. stießen. Dort waren sie das erste Männerpaar, das schließlich ein Pflegekind bekommen konnte, echte Pioniere also. Vor sechs Jahren nahmen sie ein zwei Jahre altes Kind auf. Zunächst musste Bindungsarbeit geleistet werden, alle drei mussten in dieser neuen Familienkonstellation ankommen.

Beim Vorlesen ist Müller aufgefallen, dass Kinderliteratur häufig Mutterschaft und das Verhältnis zur Mutter bespricht, die Vaterschaft aber außen vor lässt. Queeres war da schon gar nicht zu finden. Also plant er ein eigenes Kinderbuch. Von diesem Vorhaben berichtet er im choreografischen Zentrum PACT Zollverein in Essen, worauf die Einladung folgt, ein Kinderstück zu erarbeiten. So entsteht die Idee für „Praktisch Galaktisch“. Das war 2020, es folgt der Lockdown und Müller beginnt, draußen auf dem Land, umgeben von Kindern aus der Familie, mit denen er über ihre Fantasiewelten in den Austausch geht, den Text für das Stück zu schreiben. Der Lockdown dauert an, zunächst entsteht eine Filmversion.

praktisch galaktisch

© Heike Kandalowski

Das Wesen auf der Bühne, verkörpert von Rodolfo Piazza Pfitscher Da Silva, entführt uns in seine Welt, in sein Laboratorium, wo es Wasser blau färbt und Süßigkeiten hortet. Es singt den Zuckerrap und in seinem Wasserglas trifft es auf ein Meereswesen, das sich über die Verschmutzung der Weltmeere ärgert. Zwischendurch tanzt es zu Popmusik und lässt die Beine fliegen. Erzählt wird vollkommen assoziativ, wie Kinder es tun. Es berührt viele Themen von Identität über Freundschaft, Klimawandel, bis hin zu fantastisch Erlebtem. Hier gibt es singende, gleichzeitig Kaugummi spuckende Kugelschreiber, es ist also alles möglich.

Die Filmversion sieht man dem Stück noch an, Pfitscher Da Silva könnte an einigen Stellen den Bühnenraum noch mehr einnehmen und das lustige Wesen in Bewegung versetzen. Müller findet, es bräuchte noch fünf Stücke, um alle angeschnittenen Themen tiefgehender zu besprechen.

Derzeit lässt Müller sich darauf ein, die Bühne auch mal zu verlassen und andere Rollen in Produktionsprozessen einzunehmen. Lange wollte er immer nur auf der Bühne stehen, aber das ist ihm nicht mehr so wichtig. Viel wichtiger ist ihm, Wege zu finden, sein Inneres auf die Bühne zu legen. „Tanz, das ist nicht nur der Körper, der sich im Raum bewegt,“ so Müller. „Das Schreiben und den Umgang mit Sprache empfinde ich als tänzerisch, darin entdecke ich schnell eine Melodie, eine Bewegung. Sprache schlägt Haken, nimmt Tempo auf, dreht sich im Kreis. Bewegung lässt sich choreografieren, bleibt aber vieldeutig. Sprache ist direkter. Es ist nicht so gut absehbar, was das Publikum im Tanz liest. Richtungen können durch Worte klarer vorgegeben werden.“

Ein weiteres Kinderstück ist auch in Planung, darin soll es um Familien und Wahlfamilien gehen, darum, wie frei wir eigentlich mit dem Begriff umgehen. Die Frage, welche Rollen jemand in seinem Umfeld einnimmt und welche Rollen Kinder einnehmen, findet er sehr spannend. In ersten Gesprächen in Kindergruppen hat er schon herausgefunden, dass sich die Rollen der kleinen Schwester und der großen Schwester sehr unterscheiden. Und das ist ja nur der Anfang. Dann ist man noch Tochter und Schülerin und Freundin. Wie findet man sich da noch zurecht?

 Daniel Ernesto Müller realisiert mit Simon Hartmann unter dem Namen HARTMANNMUELLER eigene Stücke. Bevor sein Kind in sein Leben trat, war er auch Darsteller und Performer in der Kompanie von Ben J. Riepe. Es war ein Künstlerleben mit langen Auslandsaufenthalten. Aufgrund der Elternschaft musste er sich umorientieren. Schweren Herzens verließ er die Kompanie. Mittlerweile tun sich aber neue Möglichkeiten und Herausforderungen für ihn als Darsteller auf.

Ausgebildeter Sterbebegleiter

Vor kurzem performte er in „AUFGELÖST“ von Angie Hiesl und Roland Kaiser im öffentlichen Raum auf dem Kölner Rudolfplatz. Dort geht er vier Stunden lang mit dem Hausrat einer verstorbenen Person um, die keine Angehörigen hat. Er ordnet einen Nachlass aus Möbeln, Geschirr und Kuriosem, spricht über den Tod, Erfahrungen mit dem Sterben und erfindet Geschichten zu den zurückgelassenen Dingen.

Müller hat eine Ausbildung zum Sterbebegleiter absolviert und festgestellt, wie nah Leben und Tod eigentlich beieinander liegen. „Eigentlich begleitet man immer das Leben und nie den Tod“, sagt er. Zwar kommt er aus einem gläubigen Elternhaus, findet aber selbst keinen Halt im Glauben. Da Vaterschaft aber Fragen ans Leben und Sterben, Dasein und Weggehen aufwirft, hat er sich einer Frauengruppe angeschlossen, in der Raum für Sorgen und Ängste ist. Dort hat er gelernt, dass er das Sorgen machen ersetzen muss und tauscht es nun aus durch Fürsorge. Schaut also, was die akuten Fragen und Sorgen seines Sohnes sind und wie er ihm am besten zur Seite stehen und helfen kann. Meditation hilft ihm, im Hier und Jetzt zu bleiben und bei dem Versuch, nicht mehr das Loslassen zu üben, sondern gar nicht erst festzuhalten. So nimmt das Gespräch ein beinahe philosophisches Ende, aber diese Erkenntnisse und Erfahrungen sind wichtig für seine Kunst und seine Entwicklung als Darsteller. Auch um eigene Ideen zu verwirklichen, muss man das Sorgen machen ablegen lernen.

Genre

Performance, Schauspiel

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Judith Ayuso Pereira
Judith Ayuso Pereira
ist Philologin und Tanzwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freischaffende Dramaturgin, Autorin und Vermittlerin und lebt im Ruhrgebiet.