Entflechtung von Kunst und Kolonialismus

Das Kainkollektiv stellt in „Schwarze Eurydike“ eurozentristische Mythen auf den Kopf. Doch die realpolitischen Verhältnisse holte das internationale Team wieder ein.
Es ist eine riesige, weiße, schäumende Schicht, die auf die Küste am südafrikanischen Kap zurollt: Wellen und Gischt, aufgewirbelt durch die Schiffe, mit denen der niederländische Kaufmann und spätere Begründer der Kapkolonie Jan van Riebeeck mitsamt seiner Mannschaft auf die Küste zusteuert. An einer Stelle des Stücks „Schwarze Eurydike“ erfährt das Publikum im Theater im Ballsaal nicht nur von dieser Episode im April 1652. Die Bühnenakteur*innen lancieren zugleich den Begriff „Umlunglu“. Damit bezeichneten die ursprünglichen Bewohner*innen des späteren Kapstadts, San und Khoikhoi, das Weiße, die Gischt, die an den Strand gespült wurde, aber auch jene Herren, die in den Schiffen saßen und sich daran machten, das Land zu ergreifen, zu plündern und zu unterwerfen.
Erneut eröffnet das Kainkollektiv damit einen Perspektivwechsel, um eine eurozentristische Kulturgeschichte umzukrempeln. „Schwarze Eurydike“, so der Titel ihres aktuellen Stücks, widmet sich der mythologischen Figur des Baumgeistes, die in etlichen modernen Bearbeitungen auftaucht, unter anderem in Monteverdis „L’Orfeo“ von 1607. Seine Oper gilt als die erste moderne westeuropäische Oper und damit als Hauptreferenz dieser „Eurydike“-Inszenierung. Denn das 2008 in Bochum gegründete Theaterkollektiv nimmt Monteverdis Oper als Klammer, als Reibungsfläche, um die Zusammenhänge dieser Kunstform zum frühen Kolonialismus, aber auch dem Patriachat aufzuzeigen.
Diesmal schweigt Orpheus
„Die Figur der Eurydike hat darin keine einzige Arie zu singen, obwohl sie in dieser Oper im Zentrum des Interesses steht“, sagt Fabian Lettow, einer der Mitbegründer des Kainkollektivs über Monteverdis Werk. Stattdessen verschwindet Eurydike in die Unterwelt, aus der sie schließlich von Orpheus gerettet wird. Die Arien übernimmt bei Monteverdi nur Orpheus, und zwar mit viel maskulinistischem Tamtam. Denn sobald er loslegt, stehen der Wind und die Bäume still, die Tiere schweigen. „Wenn Orpheus anfängt zu singen, erstarrt die Welt“, kritisiert Mirjam Schmuck, ebenso Mitbegründerin des Kainkollektiv, „alles hört dieser männlichen, patriarchalen Macht zu.“
In „Schwarze Eurydike“ schweigt Orpheus. Er ist nicht einmal zu sehen. Nur Frauen stehen in dieser Inszenierung auf der Bühne. Es ist „ein Empowerment-Space für feministische Stimmen“, erklärt Schmuck. Dafür sorgen in dieser Aufführung auch die zeitgenössischen Kompositionen aus Kamerun, Südafrika, Iran, Kanada und Europa, die Monteverdis barocke Musik überschreiben, mit einem Klangteppich, der sich aus afrikanischer Musik oder elektronischem Pop speist. „Wir wollten hörbar machen, dass es neben dieser europäischen Tradition – die wir durchaus schätzen – ganz andere Stimmen gibt“, erklärt Lettow.
Urmodell für die Positionierung der Frau
Doch dieser Mix aus Gegen-Oper, Performance und epischer Erzählung eröffnet zugleich ein poetisches Moment, das ein weiteres Motiv von Monteverdi sowie der mythologischen Überlieferung hinterfragt: Orpheus Verhältnis zu Eurydike. Liegt hier eine Liebesbeziehung vor oder dominiert vor allem ein Macht-, ein Kolonialverhältnis? „Es ist ein Urmodell für die Positionierung der Frau, die dann auch bei Monteverdi nicht anders ist: Orpheus hat ganz viel zu singen. Und bevor Eurydike wiederum was zu singen hat, geht sie in den Untergrund“, erläutert Lettow, „Orpheus kommt nicht von irgendwo, sondern er kehrt vom ersten kolonialen Feldzug zurück, vom ersten, der in der Antike überliefert wurde: dem Feldzug der Argonauten unter Jason.“

© Daniela del Pomar
Bei diesem Feldzug in Kolchos plündern die Schergen um Jason das goldene Vlies und verschleppen Medea nach Griechenland, um die „Wilde“ dort zu „zivilisieren“. Dass sich dieser unhinterfragte Kolonialkontext bis ins Jahr 1607 fortsetzte, als Monteverdis „L’Orfeo“ ihre Uraufführung feierte, nahm das Kainkollektiv zum Ausgangspunkt ihres Projektes. Denn im gleichen Jahr brechen Schiffe in Europa auf. Ihr Ziel ist Nordamerika, wo sie im heutigen Virginia eine Gründungskolonie errichten. Das Jahr 1607 bildet damit eine dramaturgische Klammer, in der Kolonialismus und die Entstehung der Oper sowie der Kunstbetrieb überhaupt zusammenfallen. Zwar schließt die Oper (und andere Formen) oft den Kolonialismus als Thematik aus, doch gibt es zugleich Stücke wie Shakespeare „Sturm“, die dieses Motiv am Rande streifen.
Dekonstruktion der Pocahontas-Figur
Die frühe Kolonisierung und anschließende Sklavenherrschaft in Virginia führten das internationale Team hinter „Schwarze Eurydike“ wiederum zu einer weiteren Figur, die in einem Stamm an der Ostküste Nordamerikas aufwuchs: Pocahontas. Denn diese Indigene Figur entspricht einem Mythos und wurde zugleich durch westliche, durch kulturindustrielle Narrative à la Disney berühmt. Dass Pocahontas im Rahmen einer Liebesgeschichte als Sinnbild einer Völkerverständigung verklärt wurde, sei nicht korrekt: „Wenn man das rekonstruiert, stellt man fest, dass diese Figur total auf den Kopf gestellt ist“, stellt Lettow klar. „Am Ende ist sie eine zwangsverheiratete, vergewaltigte, christianisierte, nach London entführte und dort ermordete Figur, die mit 23 Jahren am Rande der Themse vergraben wurde.“
So kommt in diesem Entwurf einer Gegen-Oper einiges an Motiven zusammen: vom Feminismus, über den Afrofuturismus bis hin zum Postkolonialismus. Dass das Kainkollektiv so viele Aspekte in ihren Produktionen verbindet, liegt auch an den internationalen Kooperationen, die sie wie einen Leitgedanken umsetzen. Bereits 2016 reiste das Kainkollektiv mit dem kamerunischen Theater OTHNI in die Küstenstadt Bimbia in der Region Süd-West in Kamerun, ein Ort, den die Europäer im 16. Jahrhundert als atlantischen Sklavenhafen einrichteten. Von dort aus schipperten OTHNI und das Kainkollektiv in einem Boot nach Manoka, wo alte Gefängnistürme von der Kolonialvergangenheit zeugen. Ihre gemeinsame Reise diente einer Recherche, die in der Ko-Produktion „Fin de Mission – Ohne Auftrag leben“ am Mülheimer Ringlokschuppen mündete, ein Stück, das ebenso Opern- und Barockelemente mit kolonialen Ausbeutungszusammenhängen konfrontierte.
Im Projekt mit der Compagnie Zora Snake aus Kamerun sowie Njara Rasolomanana aus Madagaskar ging es gar um die titelgebende Frage: „Ist das ein Mensch?“ Denn bekanntlich erfand Europa ein rassistisches Menschenbild, um die Ausplünderung des globalen Südens zu legitimieren: als Konstruktion des Primitiven. Das Kainkollektiv füllt damit nicht nur durch die Sujets, sondern ebenso durch die internationalen Kooperationen eine Lücke, die in den Bildungseinrichtungen klafft: die Aufarbeitung einer kolonialistischen Blutspur, die bis in die Gegenwart reicht.
Um diese historische Verdrängung auf der Bühne aufzuarbeiten, müssen gleichberechtige Kooperationen eingefädelt werden, eine Ästhetik ohne europäischen Hoheitsanspruch. „Das ist ganz zentral für uns“, betont Lettow. „Wir können diese kolonialistischen Zusammenhänge aufreißen, aber nicht allein füllen. Es braucht vielmehr diese internationalen Allianzen.“ Doch diese internationale Zusammenarbeit stößt genauso regelmäßig an konkrete Grenzen.
Realpolitische Parallelen zu Eurydikes Schweigen
So sollte über das erwähnte, weiße Ungemach, das „Umlunglu“, eigentlich die Sängerin Pélagie Alima ein Lied anstimmen. Doch sie stand bei den Aufführungen nicht auf der Bühne. Sie erhielt kein Visum in Deutschland – trotz langwieriger Antragsstellungen. Ähnlich erging es auch der Mitwirkenden Anelisa Stuurman, deren Visum wiederum abgelaufen war. Auch sie stand nicht auf der Bühne. Die westliche Arroganz, das Schweigen der Unterdrückten rückt das Kainkollektiv daher nicht nur in ihren Stücken in den Mittelpunkt. Es sind zugleich Erfahrungen, die Mitglieder ihrer internationalen Produktionsteam betreffen, schildert Mirjam Schmuck: „Egal, was wir versucht haben: Am Ende konnte Alima nicht auf der Bühne stehen. Genauso wie Eurydike nichts zu singen hatte, so hatte auch sie keinen Auftritt.“
Die Realpolitik hole das Kollektiv immer wieder ein und erfordere Sorgearbeit für alle Beteiligten. „Bei aller Komplexität betrifft dieses Thema immer noch konkret-politisch das Hier und Jetzt“, unterstreicht Letow. Die realpolitischen Machtverhältnisse sprengen zwar regelmäßig die internationalen Bühnenarbeiten des Kainkollektivs, doch die Künstler*innen sind sich einig: „Diese Produktion wird nie fertig sein, bevor nicht das ganze Ensemble gemeinsam auf der Bühne stand.“