Kritik 09.09.2022

Erinnerungslandschaften „Bioswop“

Bioswop / SEE!
© Christian Knieps

Welche Geschichte steckt hinter der Fassade? In der Performance „Bioswop“ tauschen die Performer*innen untereinander Identitäten und verbinden so fremde Biografien mit dem eigenen Körper. Eine Reise in unbekannte Welten und persönliche Erinnerungen.

Was Körper über Menschenleben erzählen, darum geht es in „Bioswop“ des SEE!-Kollektivs von S.E. Struck und Alexandra Knieps. Das Wort ist eine Mischung aus „Biografie“ und „swop“, dem englischen Wort für „Tausch“. Denn tatsächlich haben die sechs Tänzer*innen während der Proben in der Corona-Zeit ihre eigenen Lebensläufe aufgeschrieben, behutsam wurde das Material vom Schriftsteller und Musiker Peter Licht, Ehemann von S.E. Struck, poetisch gestaltet. Danach haben sie die Texte miteinander „getauscht“ sprich: einem/einer etwa gleichalten Tänzer*in aus dem Ensemble übergeben, um diesen vorzutragen und so Intimität und Distanz zugleich herzustellen – eine kluge Idee. Als Bühne dazu hat der Bildende Künstler David Rauer einen klinisch weißen Raum gebaut. Einige Zuschauer*innen sitzen auf Quadern quasi mittendrin. Es ist ein Areal voller seltsamer Skulpturen aus (recycelbarem) Bauschaum: Kakteen, Kuscheltiere oder Kamele wie aus einer fremden Welt, Inkarnationen von Erinnerungsbildern. Es sind persönliche Lebenslandschaften, die während des Abends immer wieder neu verstellt werden. So, wie sich Erinnerung ja auch immer wieder verändert, sich an Details und kleine Ereignisse bindet.

Bioswop / SEE!

© Christian Knieps

Wie fremdartige Skulpturen wirken auch die Beine, die erst nur Performerin Alice Heyward, dann auch Hyunjin Kimnach oben an die Wand strecken. Nach und nach kommen auch die anderen vier Tänzer*innen in avancierten Jeans-Design-Klamotten (Yvonne Wadewitz) auf die Bühne. Zunächst hören sich ihre Worte an wie ritualisierte, aber auch etwas allgemeinplatzhafte Gedicht-Anfänge, inspiriert von einem Text des Dadaisten Hans Arp und dem Kinderbuch: »I was born in a swamp – on a beach – in a stolen land – in a suburbia – a waiting room«. Dann verwandeln sich die Satzfetzen in ihre realen – aber eben vertauschten – Biografien. Immer wieder wechseln sie ihre Standorte und erzählen den Zuschauer*innen oftmals aus nächster Nähe die Lebensgeschichten, die aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen, Ländern und Kontinenten stammen. Der eine Performer ist im osteuropäischen Plattenbau aufgewachsen, ein anderer bei Verlegereltern, die andere bei einer alleinerziehenden DDR-Tischtennismeisterin. Einmal war das großbürgerliche Haus der Großeltern ein Kindheitsparadies, ein anderes Mal die Familie so bitterarm, dass es nur bei Freunden »dishwasher« oder »ice-machines« gab. Die »sch« der Mittelklasse-Küchengeräte zischen bald einen eigenen A capella-Sound. Das eine Leben spielt in Rumänien, das andere in einer armen weißen Familie der USA, das dritte in Korea oder Australien.

Immer rhythmischer wechseln sich die Biografie-Ausschnitte ab, werden zu einer eigenen Art von Musikstück, überlagern sich, ein Teppich aus Tönen und Gesten. Dazu kreiseln die Performer*innen im Raum als parallele Karussells, rutschen auf sich zu und wieder weg, schleudern Arme im Kreis, pflügen Lebenslinien durch den Raum, sinken zusammen als Yoga-Krieger oder dirigieren ihre Erinnerungen zum Publikum. Sanft treibt dazu die Elektromusik, Tanz- und Erinnerungsbilder entstehen und vergehen. Schließlich schieben die Performer*innen endlich die grün-orange beleuchteten Bauschaum-Objekte heran und ziehen bunte Stoffschlangen heraus. Sie stehen wohl für die seltsam diversen Lebensverläufe, die wir eben alle zusammenbasteln im Laufe der Zeiten, zufällig sind die Ereignisse aneinandergesetzt, und bauen doch aufeinander auf.

Bioswop / SEE!

© Christian Knieps

Wie sich die Geschichten real in die Körper eingeschrieben haben oder nicht, bleibt an diesem Abend natürlich ein Rätsel – schließlich trägt jede*r eine Geschichte vor, die sich eben gerade nicht in ihnen abgelagert hat. Und doch spielen sie mit Haltungen und Gesten: Wie selbstbewusst stellt sich etwa jemand in den Raum, der in einem großen Garten aufwuchs, wie verkrampft jemand seinen Unterkiefer, dessen Eltern ständig Geldsorgen hatten? Immer wieder scheinen sich Spannungen, Ängste und Glaubenssätze in anderen Haltungen abzulagern.  Am Ende sieht die Bühne wild und bunt aus, wie ein bizarrer Kinderspielplatz des Lebens an sich. Ein schönes Bild.  Schade nur, dass viele Texte auf Englisch gesprochen werden, obwohl es natürlich an der internationalen Herkunft der Performer*innen liegt. So wirken die erzählten Geschichten zuweilen etwas abstrakt und abweisend. Dabei hätten sie doch so viel mit uns zu tun. Wenn man sich aber erst einmal eingelassen hat, ist »Bioswop« ein schöner Abend, er inspiriert dazu, die eigene Lebensgeschichte mit anderen Augen zu sehen.

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Dorothea Marcus
Dorothea Marcus
ist freiberufliche Kulturjournalistin und Theaterkritikerin u.a. für DLF, WDR, Theater heute und nachtkritik.de. 2016-2019 war sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Sie moderiert Podiumsdiskussionen, gibt Lehrveranstaltungen und ist Mitgründerin von kritik-gestalten.