Portrait, Tiny Residencies 14.10.2022

Fokus finden

Fokus finden

Im Seminar für Körperarbeit und Kultivierung Eitorf forscht die Kölner Choreografin Bendetta Reuter mit Plastikschläuchen und Wasserbassins. „Aquilegia“ heißt ihre offene Tanzwerkstatt zum Thema Wasser, unsere Autorin Dorothea Marcus hat zugeschaut.

Ein strahlender Oktobermorgen. 50 Minuten Fahrzeit von Köln mit der S-Bahn nach Eitorf, eine kleine Gemeinde im traumhaft schönen Siegtal, 9980 Einwohner. Nur ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt, in einer ehemaligen Versicherungs-Filiale, ist das SKK Eitorf untergebracht, filigrane Papiervorhänge verhindern den Blick ins Innere. Was sich anhört wie eine Behördenbezeichnung ist in Wirklichkeit das „Seminar für Körperarbeit und Kultivierung“ von Sebastian Nippold. Im hinteren Raum betreibt er seine Praxis für craniosakralen Ostheopatie, vorne ist der Raum, in dem der ausgebildete Sportwissenschaftler daoistische Kampfkunst lehrt, Qigong, Meditation, Yoga, Taji-Techniken anbietet. Ein großer Gong, Kampfstöcke, Yogakissen, Pflanzen und Bilder schmücken den hellen Raum. Heute liegen hier die Kölner Choreografin Benedetta Reuter und die Tänzerin Amanda Romero auf dem Boden und pusten in Plastikschläuche, die mit zwei leuchtenden Wasserbassins verbunden sind, es blubbert, rauscht, pulsiert. Die beiden erzeugen dunkle Klänge mit abgeschnittenen Wasserflaschen, an der Decke reflektiert flimmernd das Licht aus den Bassins. Die Hände der Tänzerinnen verschränken sich, Klanghölzer an ihren Körpern klackern, im Schattenspiel oben werden es seltsame vielarmige Wesen, die verschmelzen. Es rauscht, tutet, flutet, ein Bewegungskonzert. „Ich baue Playgrounds, Spielwiesen, und erforsche sie“, erzählt Benedetta Reuter lächelnd, als die Improvisation mit Geräuschen und Gesten nach etwa 30 Minuten vorbei ist, „Wir lassen die Objekte mit uns tanzen“. Sie braucht dazu nichts weiter als Fundstücke aus der Natur, Alltags-Gegenstände und etwas Baumarkt-Zubehör, lässt sich von der Natur inspirieren – die Kastanien, die sie in die Wasserbassins geworfen haben, klingen genauso wie die Objekte, die jetzt im Herbst ständig in die Sieg plumpsen, der Fluss ist nur 5 Minuten Fußweg entfernt, sie hat ihn beobachtet in den letzten Tagen, belauscht, aufgezeichnet. Spielerisch untersucht sie die Qualitäten der Dinge, ihre Fähigkeiten, ihre Verbindungsmöglichkeiten – und vor allen Dingen die Musik, die ihnen zu entlocken ist. Und untersucht dabei gleichzeitig die Zusammenhänge zwischen Natur und Kunst, dem Innen und Außen.

Seit 2004 lebt die gebürtige Italienerin schon in Köln, ist Choreografin, Tänzerin und Performerin. Sie gehört zur künstlerischen Leitung des Klangkörper-Netzwerks und arbeitet als Choreografin mit Kindern und Jugendlichen. Das SKK Eitorf hat sie sich als Ort für ihre „Tiny Residency“ im Rahmen des Förderprogramms „Raus ins Land“ bewusst ausgesucht. Sebastian Nippold in Eitorf kennt sie schon, seit sie sich selbst von ihm in craniosakraler Therapie oder Qi-Gong unterrichten ließ, manchmal ist Nippold auch Bewegungscoach für ihre Tanzprojekte. Für rund zwei Wochen wohnt sie nun in Eitorf, die meiste Zeit in einer AirBNB-Wohnung: „Was mich in allererster Linie hierher geführt hat, war das Wasser“, sagt sie. „Das Wasser ist ein Element, mit dem ich mich seit einiger Zeit künstlerisch beschäftige – und hier im Siegtal gab es die Möglichkeit, ganz nah daran zu arbeiten“.

„AQUILEGIA“ heißt ihr Projekt und ist eine „offene Tanzwerkstatt zum Thema Wasser“, so steht es auf ihrem Flyer. Das Wort bedeutet „wassersammelnd“, und ist zugleich der Name einer Blume, die mit ihren geschwungenen Blütenblättern besonders viel Wasser auffängt. Zugleich hört es sich an wie ein Musikstück, das mit den Geräuschen der verschiedenen Seins-Formen des Elements spielt. Einige Eitorfer*innen, auch Kursteilnehmer*innen von Sebastian Nippold, hatte sie eingeladen, an vorbereitenden Workshops teilzunehmen, auch bei der vorläufigen Abschlussperformance am 15. Oktober 2022 sollen die Besucher*innen beteiligt werden. So einfach wie gedacht ist das allerdings gar nicht: „Es gibt viele spannende Initiativen hier, aber die Menschen auf der Straße sind schwer zu finden“, erzählt Benedetta Reuter, „Dabei ist ein wichtiger Teil meiner Residenz, mit den Menschen hier in Resonanz zu kommen.“

Bei ihrem ersten offenen Workshoptermin kamen zwei Menschen. Dennoch waren die gemeinsamen Arbeitsstunden so intensiv, dass eine der Teilnehmer*innen nun unter anderem hilft, die Flyer der „AQUILEGIA“-Abschlussperformance zu verteilen, eine große Ansprechpartnerin geworden ist, um die kleine Stadt zu verstehen. Auch die täglichen Rituale, entdeckt Benedetta Reuter gerade, seien in Eitorf andere als in der Großstadt: abends seien die Straßen eher leer, Mahlzeiten würden früher eingenommen, das Leben ist strukturierter. Das hat ihr auch der Kulturdezernent von Eitorf, Thomas Feldkamp, bestätigt. Daher sind Benedetta Reuter und Amanda Romero eines Nachmittags durch die Innenstadt gestreift, haben kleine „Pop-Up-Performances“ vor REWE, dem Eisladen und dem Theater aufgeführt, mit umgehängten Flügeln aus Klangholz und den blubbernden Wasserbottichen improvisiert. „Manche Menschen sind achtlos vorbei gegangen, haben uns fast als Störfaktor gesehen – aber gerade, wenn sie an der Ampel gewartet haben, haben sie mit großen Augen zugeschaut und Flyer mitgenommen. Viele zögern vielleicht zuerst, weil sie die Art, wie wir künstlerisch arbeiten, nicht kennen“, sagt sie.

Sehr wichtig ist es für Benedetta Reuter auch, mit den Kulturinstitutionen hier in Kontakt zu kommen, am liebsten würde sie Vernetzungen für länger legen, regelmäßig nach Eitorf zurückkehren. Seit 2020 gibt es hier etwa das „Theater im Park“ in direkter Bahnhofsnähe, eine Spielstätte mit 350 Plätzen und einer wunderschönen weißen Rotunde mit bodentiefen Fenstern. Bisher treten auf der großen Bühne Bands oder lokale Theatergruppen auf, das Haus fasst Bibliothek, VHS, Bürgerzentrum und ein offenes Lesecafé zusammen. Zu gerne würde sie dort arbeiten. Doch es braucht einen längeren Atem als in der Stadt, sich hier mit den Menschen zu verbinden. Das Potential ist allerdings da: trotz aller Ländlichkeit und Naturnähe gibt es in Eitorf ein reges Kultur- und Vereinsleben, viele Bürger*inneninitiativen und Galerien, auch einen Skulpturenpark. Aus der alten Schöller-Fabrik, einer ehemaligen Kammgarnspinnerei, soll bald ein Industrie-und Wassermuseum werden, mit den Menschen, die sich darum kümmern, ist sie auf dem Feierabendmarkt des Heimatvereins Eitorf zusammengekommen.

Das Wasser ist im Siegtal ohnehin allgegenwärtig, nicht nur im Sommer, wenn der Fluss glitzert und ständige Bademöglichkeit bietet. Sebastian Nippold etwa hat sich in die Region im November verliebt, als der Nebel über dem Fluss aufstieg. Auch für ihn war es zuerst herausfordernd, aus Köln-Nippes hier im Siegtal anzukommen – „Auf dem Land kann man nicht immer der sein, der man ist“, sagt er. Und doch würde er momentan nicht in die Großstadt zurückziehen, hat ihn der Lärm dort immer gestört, liebt er es, hier zu wandern, sofort tief in der Natur zu sein. Und will sich mit dem Ort Eitorf bewusst verbinden: „Nicht umsonst heißt mein Unternehmen „Seminar für Körperarbeit und Kultivierung. Für mich persönlich ist die Kultivierung von Eitorf Lebensziel, etwas, was mich momentan sehr interessiert“, sagt er. Und deshalb wollte er Benedetta den Raum zur Verfügung stellen, den sie suchte – und unterstützt nun gerne ihre Bemühungen, mit Eitorf in Kontakt zu kommen. Aber er inspiriert auch ganz unmittelbar ihre künstlerische Arbeit: nachdem Benedetta und Amanda 30 Minuten allein improvisiert haben, kommt er dazu, zu dritt stellen sie sich in einen Kreis. Denn auch in daoistischen Meditations- und Kampfkunstpraktiken spielt Wasser eine große Rolle, seine Erscheinungsformen und Bewegungen. Er lässt die beiden Tänzerinnen schraubende Bewegungen machen, die Energie wird zum Strom durch den Körper, mit den Armen werden Wassersäulen die Luft gebohrt, Wasser fließt sprudelnd hindurch, nur durch Atmung und Konzentration auf Körperbereiche werden Spannungen erzeugt. Denn der dritte wichtige Aspekt für Benedetta Reuters „Tiny Residency“ im SKK Eitorf war, Elemente des Qi-Gong und der traditionellen chinesischen Kampfkunst Wuchu noch stärker in ihre Kunst zu integrieren: „Hergeführt hat mich auch der Wunsch, da stärker in die Tiefe zu gehen, zu trainieren, zu lernen, auszuprobieren. Und hier finde ich den Fokus und die Konzentration dazu“, sagt sie.

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Dorothea Marcus
Dorothea Marcus
ist freiberufliche Kulturjournalistin und Theaterkritikerin u.a. für DLF, WDR, Theater heute und nachtkritik.de. 2016-2019 war sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Sie moderiert Podiumsdiskussionen, gibt Lehrveranstaltungen und ist Mitgründerin von kritik-gestalten.