Gegen die Fremdbestimmung

„Schäm dich was!“ Diesen Satz wird jede*r schonmal gehört haben. Aber was bedeutet das eigentlich und wie entsteht Scham? Saskia Rudat widmet diesem affektiven menschlichen Gefühl eine Solo-Performance, die jede*n etwas angeht.
„S. Rudat, semiprofessioneller Musiker aus der sogenannten ‚Generation-WHY‘, landet mit seinem zweitbesten Stück ‚Shame you WHAT?!‘ einen echten Sandkuchen. In einem Mischmasch aus Konzert und ‚Performance‘ bearbeitet er auf der Bühne seine ‚schwierige‘ Jugend.“ Schon bei dieser Ankündigung läuft es einem kalt den Rücken hinunter. „Machen Sie einen Fehler und verschwenden Sie ihre Zeit. Sie werden es bereuen und erleichtert sein, wenn S. Rudat endlich die Bühne verlässt …“, heißt es zum Schluss. Neugierig und auf Unangenehmes gefasst, nehme ich dieses Angebot an und finde mich bald im Saal von Barnes Crossing wieder, diesem versteckten Produktions- und Veranstaltungsort auf dem verwunschenen Gelände der ehemaligen Wachsfabrik in Köln-Rodenkirchen.
Im Bühnenhintergrund ein heller Fadenvorhang, auf den verheißungsvoll das Wort „SHAME“ in großen weißen Lettern projiziert wird. „Herzlich Willkommen zur billigsten Therapiesitzung der Welt“ begrüßt Saskia Rudat uns im hellen Kapuzenshirt aus Netzstoff, einer weiten dunkelblauen Sporthose und weißen Plateausneakers. Die lauten, durchdringenden Elektrobeats im Hintergrund schrauben sich unwillkürlich in den Kopf hinein (Musik: Jakob Lorenz). Aus dem Off hören wir Berichte von traumatisierenden Erlebnissen, Kränkungen, Missachtungen. Auf einem kleinen Bildschirm am linken Bühnenrand sind sie in Neon-Lettern mitzulesen, werden dadurch noch eindrücklicher, wie ein Zeugnis. Es geht um Körperbilder, um Fremdwahrnehmung und die eigene Identität – „Ich komme nicht aus meiner Haut, ich bin halt nun mal so gebaut“. Immer dabei im Fokus die Kategorisierung von Geschlecht: weiblich, männlich, „irgendwas dazwischen“.
Biografische Erfahrungen, eigene und fremde, werden mit fiktiven Erzählungen zu einem Teppich aus Vorstellungen und Bildern, aus Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen verwoben. Dabei wird dieses Dazwischensein schnell zu einem unangenehmen Etwas im Raum, wird es doch nicht als etwas Eigenes, Vollwertiges betrachtet, sondern stets als ungenügend markiert, als weder das eine, noch das andere. Eben nichts „Richtiges“. Fast übergroß wird dabei die Scham als das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Saskia Rudat fordert uns auf, uns gedanklich dazu zu positionieren: Wer bin ich eigentlich in dem Ganzen? Wie begegne ich Menschen, die ich nicht gleich einordnen kann? War ich selbst schon einmal verletzende Person? Und warum eigentlich müssen wir uns Respekt erst verdienen?

© Oliver Stroemer
„Because of blame, I’m full of shame” – dass Kleinkinder beginnen sich zu schämen, weil wir es sie lehren, wird überdeutlich. Immer wieder kommen die künstlichen, gesellschaftlich konstruierten Bilder von „richtig“ und „falsch“ zum Vorschein, die dieses affektive Gefühl in uns auslösen. Wie schädlich diese Bilder sein können, hat wohl jede*r schon einmal erfahren müssen. „Schämen Sie sich für ihren Schambereich? Schämen Sie sich für ihre Genitalien? Schämen Sie sich dafür einen Orgasmus zu haben, schämen Sie sich dafür keinen Orgasmus zu haben?“ Auf dem Video im Hintergrund kriechen Regenwürmer aus allen erdenklichen Öffnungen menschlicher Körperteile. Scham verbindet sich mit Ekel.
Nach und nach setzt Saskia Rudat diesen Abend bruchstückartig zusammen und betont einmal mehr die Konstruiertheit der Scham: Auf eine Runde „Shame Shopping“, bei der wir gemeinsam Fragen durch Handzeichen beantworten, folgt ein Talkshow-Verschnitt, bei dem „Frau Rudat“ von einem aufgesetzten, ignoranten Moderator zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Scham befragt wird. In dem sie ihre eigene Stimme elektronisch verzerrt, schlüpft die Künstlerin in atemberaubendem Tempo abwechselnd in die Rollen der Gesprächspartner*innen. Unangenehm berührtes Lachen und ungläubiges Kopfschütteln vorprogrammiert.
Stärke und Unsicherheit, Stolz und Scham wechseln sich ab. „Alle sagen, ich soll mich schämen, also versuche ich das jetzt mal.“ Mit stockenden Bewegungen tasten sich Rudats Hände an ihrem Oberkörper entlang. Es sind hektische, suchende Bewegungen, die mal wie ein Zusammenkauern wirken, dann an eine zaghafte Umarmung erinnern. Auf das Sichkleinmachen, Sichzurückziehen, folgen schwere, harte, verzweifelte Bewegungen. Die Bilder auf dem Vorhang liefern den totalen Kontrast, muten an wie Musikvideos internationaler Stars: Sinnlich bewegt sich die Künstlerin darauf mit wehenden Haaren zur Musik, blickt uns selbstbewusst über ihre Schulter an. Wie in einem Prisma werden diese Bilder gespiegelt und gebrochen, leuchten in den buntesten Farben – Gesichter, Augen und Münder, Farben und Formen verschwimmen. Gefühl und Identität als Ergebnis des eigenen Baukastens.
Im Anschluss an ihr erstes abendfüllendes Solo „Defining (i) dentity olo dentity oio dentity (I) dentity“ schafft Saskia Rudat mit ihrem Team und dem Komponisten Jakob Lorenz ein kräftiges, sperriges Bild der Scham, das die Aufmerksamkeit auf unser Miteinander lenkt. Schade, dass die vielen einzelnen Bruchstücke den Weg zum eigenen Fühlen versperren, die eigene Scham wird wenig berührt – bevor man schon wieder wo anders ist. Was bleibt, sind Gedanken und Fragen an mich, an uns, die noch Tage nachhallen. „Shame you WHAT!?“ ist ein Plädoyer für eine aufgeklärtere, offenere Welt, in der die Einzelnen sich nicht verstecken müssen. Eine Welt für die es noch viel zu tun gibt.