Portrait, Tiny Residencies 29.12.2022

Gegen die Hysterie ansticken

The Rural Sound of Music / Miriam Michel
© Heike Kandalowski

Miriam Michel und Rasmus Nordholt-Frieling waren im Rahmen ihrer „Tiny Residency“ zu Gast im Wasserschloss Reelkirchen bei Detmold. Aus Interviews mit Anwohner*innen und historischen Zeugnissen des Ortes haben sie Material gesammelt, sie haben Songs geschrieben und  an diesem Abend improvisiert. Unsere Autorin lauschte ihrem vergänglichen Konzert „The rural Sound of Music“ in historischer Kulisse.

Das Wasserschloss Reelkirchen liegt außerhalb von Reelkirchen an der Straße Richtung Blomberg. Es ist bereits stockdunkel an diesem frostigen Konzertabend im Dezember. Nur die Fenster des alten Herrenhauses sind erleuchtet. Der Weg zum Eingang führt über einen Wassergraben, welcher das Anwesen rundherum umschließt, durch ein großes Tor in den Innenhof. Die Anlage gibt es bereits seit 1600. Das Herrenhaus selbst, in dem das heutige Testkonzert von Miriam Michel stattfindet, wurde 1755 erbaut. Über Kies, die herrschaftliche Treppe hinauf, geht es zur großen Eingangstür. Die Schlossherrin Sigrun Brunsiek kommt uns entgegen, als wir die Tür öffnen und die Eingangshalle betreten.

Sigrund Brunsiek und ihr Mann Josef haben die alte Anlage bereits vor 10 Jahren erworben. Das Ziel war immer „ein Projekt zu starten, in dem Natur, Kunst, Technik und natürlich ganz viel Geschichte zusammenkommen können, um etwas Neues, vielleicht auch Unerwartetes entstehen zu lassen“. Also kauften sie das Wasserschloss und renovieren es seitdem in liebevoller Arbeit. Das alte Haus wurde gedämmt, Räume wurden teilweise neu verputzt, eine Heizungsanlage eingebaut. Seit zwei Jahren ist es nun bewohnbar und die Familie zog ins untere Stockwerk ein. Ziel ist es jetzt, auch noch das Torhaus fertigzustellen, ein kleineres Häuschen auf dem Gelände, als Unterbringung für die Gastkünstler*innen. Ganz soweit sind sie allerdings noch nicht und insofern kämen die Tiny Residencies von Raus ins Land im Herbst und Winter 2022 eigentlich etwas zu früh, erklärt mir Sigrun: „Aber es hat trotzdem viel Spaß gemacht, nur die Unterbringung der Künstler*innen war dann eben im Haupthaus.“ Voraussichtlich im nächsten Sommer wird dann auch das Torhaus zur Verfügung stehen.

Im Haus der tausend Türen

Im unteren Stockwerk befindet sich der private Wohnbereich der Familie. Über eine großzügige alte Holztreppe gelangen wir nach ganz oben in das Zimmer, in dem die Künstler*innen des heutigen Abends gerade beim Soundcheck sind. Miriam Michel und Rasmus Nordholt-Frieling sitzen an einem Ende des Kaminzimmers, in dem außerdem Stühle für das erwartete Publikum aufgestellt sind. Die beiden treffen noch Absprachen für das Konzert und so führt mich Sigrun in das sogenannte Tapetenzimmer, ebenfalls angrenzend an das Treppenhaus. Venezianische Szenen sind hier auf historischen Grisailletapeten an allen vier Wänden abgebildet. Wie ich erfahre, bedeutet „Grisaille“, dass sie ausschließlich in grau, schwarz und weiß bemalt sind. Sie wurden 1810 dort angebracht und verleihen dem ganzen Zimmer mit seinen Biedermeiermöbeln einen beeindruckenden Charme.

The Rural Sound of Music / Miriam Michel

© Heike Kandalowski

Während ich mich hier mit Sigrun über die zehnjährige Umbaugeschichte und den Ort unterhalte, erscheint plötzlich ihr Mann Josef – aus einer Tür hinter mir, die ich vorher nicht bemerkt habe – und begrüßt mich. Dieses Haus scheint noch viel mehr Räume zu haben und noch mehr Türen, die ich gar nicht alle überblicke. Nachdem Josef durch eine andere Tür wieder verschwunden ist, erzählt mir Sigrun von den anderen Projekten, die sie hier schon hatten oder regelmäßig veranstalten. Bisher haben sie hauptsächlich mit bildenden Künstler*innen gearbeitet. Nachdem die Corona-Pandemie das jährliche Sommerfest im Innenhof nicht mehr möglich machte, entwickelten sie einen Lichtkunstspaziergang vom Gelände durch das Dorf. Seitdem erfreut sich das Event jedes Jahr einer großen Besucher*innenzahl. Ohnehin, das Wasserschloss ist als Kulturstätte bei den Blomberger*innen beliebt. „Es kommen eigentlich immer Leute zu den Veranstaltungen“, sagt Sigrun.

Jetzt startet gleich das Testkonzert und wir gehen wieder zurück ins Kaminzimmer, wo sich langsam die Gäste einfinden. Sigrun behält recht: Kurz bevor das Konzert beginnt, müssen sie sogar noch ein paar Stühle dazustellen, da noch mehr Publikum kommt als erwartet. Nach einer Begrüßung der Gäste von Sigrun sagt Miriam Michel einige Worte zu ihrer Arbeit. Mit ihrem Musikerkollegen Rasmus Nordholt-Frieling verbindet sie bereits eine lange Zusammenarbeit. Zuletzt produzierten sie gemeinsam das Hörstück „Darkness is the absence of light – Ein Plädoyer für die Dunkelheit“ am Center for Literature, Münster. Michel ist Regisseurin, Performerin, Dramaturgin und Dozentin und interessiert sich u.a. für den westfälischen Landadel. Diese Faszination sei es auch gewesen, die sie in dieses Wasserschloss zog, erklärt sie.

 

 

Von Vergangenem und Vergehen

Während ihrer Forschung vor Ort sprach sie mit Anwohner*innen über das Leben auf dem Land, ließ das Haus und die Umgebung auf sich wirken. Das gesammelte Material schickte sie Rasmus, der dann die Idee hatte, Countrysongs zu schreiben, die es jetzt für uns zu hören gibt. Auch ein paar Lieder aus früheren Projekten haben sie mitgebracht sowie zwei sogenannte „disappearing Songs“, die an diesem Abend einzigartig improvisiert werden. Die Stimmung ist gemütlich in diesem schönen Raum, die Musik zwischen Country-esk durch die Begleitung mit der Akustikgitarre und sehr atmosphärisch durch das Modularsystem, welches, von Rasmus gesteuert, vollmundige Klangteppiche produziert. Miriam hat bei ihren Spaziergängen Aufnahmen gemacht, die sich immer wieder in der Soundkulisse wiederfinden. Sie erklärt mir später, wie die beiden beim gemeinsamen Songwriting vorgehen: „Rasmus spielt etwas auf einem Instrument, ich improvisiere darauf Text und Melodie. Dann arbeiten wir gemeinsam daran.“

Schließlich stehen die disappearing Songs auf der Setlist. „Disappearing Songs sind ephemere, improvisierte Lieder, die nicht aufgenommen werden und so im Erklingen schon verschwinden“, heißt es in der Ankündigung. Rasmus sorgt wieder mit seinem Modularsystem für eine stimmungsvolle Klangwelt, auf deren Basis Miriam nun ihre Performance entwickelt. Im ersten der Songs thematisiert sie den Landadel Westfalens und die Geschichte des Wasserschlosses. Besonders die Rolle der Frau durch die Jahrhunderte wird zu einem Schwerpunkt des Lieds. „Sticken, sticken, gegen die Hysterie ansticken“ sind Zeilen, die sie jetzt singt. In der Vergangenheit war das Wasserschloss ein Pensionat für Mädchen, die hier das Hauswerken erlernen sollten. Sie sollten hier sittsam und brav sein, um zu guten Ehefrauen ausgebildet zu werden.

The Rural Sound of Music / Miriam Michel

© Heike Kandalowski

Es inspirierte Michel auch, dass Sticken heutzutage als achtsames Hobby neu entdeckt würde, während ihre 96-jährige Oma noch ganz traditionell die Namen aller Kinder in Handtücher sticke. Außerdem beschäftige sie die viel proklamierte patriarchale Idee, dass Emotionen weiblich seien und dass damalige „Forschungsergebnisse“ beweisen sollten, dass die Ovarien im weiblichen Körper hin und her wanderten und Hysterie auslösten, erklärt Miriam. „Das ist natürlich absoluter Bullshit.“ Aus all diesen Eindrücken speiste sich die improvisierte Performance. Beeindruckend ist, wie dieser historische Ort und das Bewusstsein darüber, wie viele Geschichten sich hier schon abgespielt haben müssen, diesen Abend bestimmen – nicht zuletzt, weil Miriam in ihrer Performance oft Bezug zu diesem speziellen Hier herstellt. Damit lässt sie diese eng mit dem Ort verwachsen. Ich sehe die Frauen mit den Stickrahmen ganz deutlich vor mir, wie sie mit mir gemeinsam vor dem Kamin sitzen.

Kleist und ein bleibendes Ende

Im Zentrum des zweiten disappearing Songs an diesem Abend steht die Hermannschlacht. Heinrich von Kleists Drama ist Ausgangspunkt von Miriams Performance, bevor sie ihren Gedanken wieder freien Lauf lässt. Das Klackern von Steinen ist jetzt immer wieder zu hören und untermalt eine plötzlich abgründiger werdende Atmosphäre. Die Sounds haben Rasmus und Miriam draußen bei den Externsteinen im Teutoburger Wald aufgenommen. Zusammen mit Kleists Sprache und der Beschreibung der Schlacht fühlt sich der Ort nun ganz anders an, irgendwie kälter. Miriam erzählt nach dem Konzert: Was sie an der Hermannschlacht fasziniere, sei die Frage des Deutsch-Seins und was durch das Hermann-Denkmal symbolisiert werde und wurde. Außerdem sei sie schon immer großer Heinrich von Kleist-Fan: „Als Regisseurin ist mein großer Traum, irgendwann das gesamte Bühnen-Oeuvre von ihm zu inszenieren.“ Ihre Leidenschaft für Kleists Texte lässt sich im ganzen Raum deutlich spüren.

Schon von Beginn an bin ich ganz in die Musik eingetaucht, habe kein Zeitgefühl mehr und bin daher überrascht, als das Lied schließlich zu Ende ist und Miriam den letzten Song, noch einen nicht-improvisierten, ankündigt. Bei Getränken und Baguette, von Sigrun und Josef bereitgestellt, sind alle Gäste noch herzlich eingeladen zu verweilen. Wie sich im Gespräch mit anderen Zuhörer*innen herausstellt, ist nicht nur mein Kopf voll mit den vielen Eindrücken und Gedanken, die sich erst einmal setzen müssen. Und so geht dieser Abend zu Ende – ich bin beeindruckt von der Gastfreundschaft der Hausherr*innen und von der empfindungsvollen Performance von Miriam und Rasmus.

 

Kommentare

Laura Becker
Laura Becker
studierte Philosophie und Soziologie und lebt in Köln. Neben ihrer Autorinnenschaft bei kritik-gestalten, schreibt sie für FIDENA und ist freischaffende Produktionsleiterin und Dramaturgin sowie Teil der Projektagentur Local International in Bonn.