Geschichten aus einer anderen Welt

Das Performance-Kollektiv „Boikott“ um Robin Plenio und Sophie Krause hat in Deuz Geschichten der Bewohner*innen gesammelt und sie für das „Nachbarschaftsmanifest“ in einem Videowalk umgesetzt. Ein Besuch in einem Ort voller Erinnerungen und Anekdoten.
Von Siegen-Weidenau tuckert der Linienbus in Richtung Netphen. So schnell wie der Bus die Ortschaft erreicht hat, so schnell verlässt er sie auch schon wieder und braust auf eine Landstraße. Fünf Kilometer führt sie durch eine herbstlich gelb-braune Hügel- und Waldlandschaft bis Netphen-Deuz. Zweieinhalb Stunden haben Zug- und Busfahrt vom Ruhrgebiet nach Netphen-Deuz im Siegerland gedauert. Zweieinhalb Stunden und man fühlt sich wie in einer anderen Welt. In der Umgebung der Bushaltestelle reihen sich eine kleine Bankfiliale, ein Getränkemarkt, eine Bäckerei, eine Metzgerei, eine Kirche und unzählige Fachwerkhäuser aneinander. Auf dem Weg in Richtung Qulturwerkstatt stolpere ich über einen Bahnübergang. Hier ist scheinbar gut nach links und rechts schauen angesagt, denn Schranken gibt es nicht.
In der Qulturwerkstatt und um das Gebäude herum herrscht Baustelle. Bis Mai dieses Jahres war auf der unteren Etage noch eine Tischlerei. Jetzt baut die Qulturwerkstatt um: Neue Räume sollen entstehen, um mit der Qulturwerkstatt – das Q – einen kulturellen Begegnungsort fest zu etablieren.
„Wir haben uns 2019 gegründet und sind seitdem dabei die ganze Sache aus dem Boden zu stampfen“, erklärt Stefan Bünnig von der Qulturwerkstatt. Trotz dieser kurzen Zeit konnten sie schon viele Projekte – dank Förderprogrammen und dank vielen ehrenamtlichen Helfenden. So veranstaltet die Qulturwerkstatt zum Beispiel regelmäßig Programme von Theaterabenden, Kulturcafé und offene Treffs. „Wir müssen von Anfang an Programm machen, um Leute an den Ort zu locken und neue Mitglieder zu gewinnen“, berichtet Bünnig. Bisher hatten sie neben der Werkstatt vor allem einen Raum genutzt, der jetzt aber wegen des Umbaus abgerissen werden musste. Im Sommer konnten Veranstaltungen größtenteils im angrenzenden Garten stattfinden. In den kalten Monaten spielt sich nun alles in der oberen Etage, der „Qüche“, ab.
Ein Kollektiv zwischen Einzelkämpfer*innen
An diesem Vormittag im November stapelt sich in der Qüche Kamera-Equipment. Es gehört dem Perfomance-Kollektiv „Boikott“, die aktuell im Q residieren. Das Kollektiv um Robin Plenio und Sophie Krause ist das erste von drei „Tiny Residencies“, das im „Raus ins Land“-Förderprogramm nach Netphen-Deuz reist. Die Kaffeemaschine läuft noch laut-pfeifend durch, als die beiden beginnen, von ihrer Arbeit zu erzählen.
Seit 2017 arbeiten Krause und Plenio nun schon als Kollektiv zusammen. Gemeinsam realisieren sie in verschiedenen Kontexten Projekte zwischen Installation, Performance und Musikvideos. Damit verbinden sie ihre verschiedenen Hintergründe: Plenios Arbeit dreht sich um Musik und Klang. Er hat Komposition studiert, Musik schreibt er zum Beispiel für Theaterproduktionen in der freien Szene. „Ich bin gerade dabei, die Arbeit nochmal kennenzulernen. Wie Komponist*innen arbeiten, finde ich eigentlich etwas seltsam. Komponist*innen sind ja klassisch eher Einzelkämpfer*innen. Ich bin durch mein Studium in Hildesheim aber sehr kollektiv geprägt.“
Krause hingegen hat Performance, Medienkunst und Musik studiert. „Ich bin ins Theater abgedriftet und da in verschiedenen Positionen geblieben. Ich mache viel mit Video- und Medienkunst.“ Nebenbei studiert sie jetzt noch IT, was ihrer Arbeit zugutekommt: „Ich arbeite ziemlich viel mit Musik, Video und Licht – alles, was irgendwie programmiert werden kann. Um das ordentlich zu können, ist das Studium jetzt noch entstanden.“
Mit Dinosauriern durch die Nachbarschaft
In Netphen-Deuz residieren Krause und Plenio für zwei Wochen und entwickeln dort das Projekt „Walking with Dinosaurs – Ein Nachbarschafts Manifest“. Mit älteren Bewohner*innen aus Deuz, kreieren sie während ihrer Residenz einen Videowalk. Darin gehen sie mit Kamera einen Weg durch den Ort, den Besucher*innen später am Handy anschauen und selbst gehen können.
„Im Hinterkopf war diese Idee, dass wir irgendwann mal so einen Videowalk machen wollten. Und dann habe ich im Sommer von den Tiny Residencies gelesen“, berichtet Plenio. Obwohl Krause und Plenio in Hamburg und Berlin künstlerisch aktiv sind, haben sie eine Verbindung zu NRW, da sie beide gebürtig aus NRW kommen. Die Entscheidung, sich für die Tiny Residencies zu bewerben, kam also nicht von ungefähr.
In der Ausschreibung hätten sie bereits eine Liste von Orten gefunden, in denen Kulturstätten in ländlichen Gebieten NRWs aufgelistet waren, die für eine Residenz in Frage kämen. Plenio habe einigen einen kurzen Projekt-Pitch geschickt. Unter anderem Stefan Bünnig von der Qulturwerkstatt. „Stefan hat mir dann zurückgeschrieben. Er hatte direkt Ideen und schon Leute dafür angesprochen“, erzählt er. „Da wusste ich sofort: Das ist ein guter Ort, um das Projekt umzusetzen, Stefan bringt die richtige Motivation mit.“
Bünnig trommelte auch die Protagonist*innen für den Video-Walk zusammen. In der unmittelbaren Nachbarschaft vom Q leben viele ältere Menschen. Allerdings kannten noch nicht alle das relativ neue Qulturzentrum. Eine kleine Herausforderung also für Bünnig, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen.
Die Menschen konnten sich zum Glück sofort für das Projekt begeistern. Bereits am ersten Tag der Residenz im Q seien 15 Nachbar*innen für ein erstes Treffen gekommen. Viel mehr, als das Kollektiv erwartet hatte. Viele von ihnen seien in dem Ort geboren und aufgewachsen. Die idealen Protagonist*innen also, um für das Nachbarschafts Manifest ihre Erinnerungen von früher zu erzählen. Die erste Woche haben Krause und Plenio zugehört und persönliche Geschichten über den Ort gesammelt. „Es ist total süß, dass alle so offen sind und uns zu sich einladen“, erzählt Krause mit einem Lächeln im Gesicht.
Erinnerungen, die bleiben
Bei Kaffee, Pizza oder beim Orgelspielen in der Kirche lauschten sie den Geschichten der Bewohner*innen von Deuz. „Wir haben ganz viele Beschreibungen gehört, wie es früher war und wo welches Haus stand. Das ist wichtig für uns, um einen Überblick zu bekommen. Aber eigentlich sind die interessanten Geschichten für den Videowalk die persönlichen Anekdoten“, so Plenio.
Immerhin ist das Ziel des Video-Walks, die verschiedenen Orte mit den Geschichten zu verbinden. Für das Video gehen Krause und Plenio einen Weg durch Deuz. Diesen Weg planen sie anhand der Erzählungen und Erinnerungen. Während der vielen Gespräche sei schnell klar geworden, dass es bestimmte Personen oder Orte in Deuz gäbe, zu denen viele der Bewohner*innen unterschiedliche Erinnerungen hätten. Diese Orte sollen auch im Video Walk landen, auditiv untermalt von den Geschichten und Anekdoten der Leute. „Wenn sie dann diesen Weg gehen, entdecken sie die Orte mit ihrer Erinnerung wieder. Das ist etwas sehr Schönes“, erzählt Krause.
In dem Video gibt es auch genaue Hinweise, wann eine Straße überquert werden muss, wo also Vorsicht geboten ist. Der Video-Walk feierte am 12. November 2022 Premiere. Und er soll bleiben: QR-Codes sollen dauerhaft an den verschiedenen Orten angebracht werden, damit Besucher*innen die Geschichten jederzeit anhören können. Auch wenn Krause und Plenio ihre Residenz in Deuz schon lange verlassen haben, ihr Projekt, ihre Idee und die Geschichten bleiben.