Gravitationskräfte für Physikmuffel

In ihrer Performance und Installation „Gravity Pieces“ erforscht die Gruppe Rotterdam Presenta die Gesetze der Schwerkraft mit künstlerischen Mitteln. Dabei entsteht ein ästhetisches Forschungsfeld zwischen Physik und Fantasie.
Die Kulisse, die „Rotterdam Presenta“ für ihr künstlerisches Physikexperiment erschaffen hat, gleicht einer abstrakten Spielwiese. Inmitten einer kühlen Werkstatthalle in Düsseldorf Lierenfeld liegt ein großer hellgrauer Teppich neben einer ebenso großen weißen Gummimatte. Überall verstreut darauf dunkelblau-samtige geometrische Formen, an den Seiten Teerhaufen und diverse Objekte: ein gelbes Gebläse, ein rotes Plastikkissen, weiße Kugeln, hölzerne Ellipsen. Eine Plexiglasscheibe hängt von der Decke, dreht sich und bricht das Licht hypnotisierend. Rein optisch verleihen die Farben und Formen dem Ort einen Bauhaus-Charme (Bühne und Choreografie: Stine Hertel, Jan Rohwedder). Die Zuschauer*innen werden ermutigt, die Kulisse schon einmal zu inspizieren, bevor sie sich an einen beliebigen Platz auf dem Forschungsfeld setzen. Über Lautsprecher ertönen Klänge, die am Bühnenrand erzeugt werden: Das Rauschen eines alten Radios verbindet sich mit Geigenhalbtönen, die zwischen den Seiten geräuschvoll stecken bleiben. Es beginnt ein künstlerisches Experiment, das Gravitationskräfte mithilfe von Musik, Stimme, Körper und Objekten erforscht, mal still und mal laut, mal plastisch, mal abstrakt.
Der Performer Mario Barrantes-Espinoza liegt auf einem der Teerhaufen und stößt langgezogene Laute aus, atmet geräuschvoll aus. Als würde sich die Stimme vom Körper lösen, entfleucht ihm wiederholend ein vermeintlich sinnbefreites EAUA, sein liegender Körper fällt schwer wie ein nasser Sack vom Teerhaufen auf den Boden, bewegt sich dort weiter, wie von der Erde angezogen, bis sich das EAUA immer weiter zu Worten formt und schließlich zu einem „Welcome everybody“ wird. Seine Spielpartnerin Katarzyna Kania positioniert das alte Radio auf der weißen Gummimatte und stellt einen Sender ein, auf dem die Gesetze der Schwerkraft erklärt werden. Lippensynchron und mit körperlicher Untermalung weist uns die Performerin ein: „Gravity is a two-way street.“ Doch die Produktion findet mehr als nur zwei Wege, die Schwerkraft zu bebildern.
Völlig losgelöst von der Erde
Die Performenden nehmen sich Zeit, um ihre Bewegungen durchzuführen. In einem ersten längeren Akt rollen sie sich über den Boden, indem nur ein kleiner Teil des Körpers mit diesem in Kontakt bleibt. Die Gliedmaße sind ausgestreckt und kreisen in Zeitlupe. Als wären sie Astronaut*innen im Raumschiff – völlig losgelöst von der Erde und klassischen dramaturgischen Vorgaben. Nach und nach werden Objekte auf die Bühne getragen, die das Bild von Planetenketten erschaffen und die menschlichen Körper mal anziehen und mal abstoßen. So wirkt die Performance wie eine Versuchsanordnung, welche die ästhetischen Formen von Gravitation überprüft.
In einem nächsten Versuch verwandeln sich Requisiten und Bühnenbild zu performenden Objekten. Die weiße Matte, die bisher als Bühnenuntergrund diente, wird aufgeblasen und transformiert sich in einem mehrminütigen Prozess zu einem überdimensionalen Kissen. Ein kleineres rotes Luftkissen, das auf der weißen Matte liegt, stößt an die Deckenlampe und umwickelt diese, wird lebendig. Die Performer*innen befinden sich im Innern der aufgeblasenen Form. Als die Luft herausgelassen wird, quietschen und knarzen sie mit Styroporblöcken, stülpen die Matte mit ihren Körpern aus. Trotz der wissenschaftlich anmutenden Versuchsanordnung, zeigt dieses Spiel mit den Objekten, wie unsere Fantasie funktioniert: Die Kulisse sieht jetzt aus wie eine Wüstenlandschaft mit kleinen Sandbergen. Und was bewegt sich da unten im Sand? Ein Tier? Was mag ihm passiert sein, dass es solche Geräusche macht? Wie automatisch verwandelt das Gehirn das Gesehene in kleine Geschichten, sucht nach narrativem Sinn zwischen all der Schwerkraft. Begünstigt wird dies durch ein atmosphärisches Geigensolo (Clara Lévy), das die Bewegungen der Objekte begleitet. Eine melancholische Melodie, die nun nicht mehr nur Geräusch, sondern Musik ist und dadurch bereits eine eigene Geschichte erzählt.
Elektronisches Sound Design à la Kraftwerk
Besonders ästhetisch ansprechend, fast schon erlösend, tanzen die Performer*innen schließlich im Duo an der Steinwand der Halle, werden synchron von dieser Wand abgestoßen und angezogen. Noch immer im schwerelosen Astronaut*innen-Stil lassen sich die Bewegungen auch auf andere Lebensbereiche übertragen: toxische Beziehungen, familiäre (Ent-)Bindung, finanzielle Abhängigkeiten etwa. Auch ihre gelb-grün-rot-blauen Schatten tanzen an der Wand und werden von spacig-elektronischem Sound Design (Niels Bovri) à la Kraftwerk begleitet.
Zurecht wird „Gravity Pieces“ auch als Installation bezeichnet. Wer einen spannungsreichen Theaterabend erwartet, kommt hier nicht auf seine Kosten. Eher ist man Beobachter*in beim Erforschen und bleibt schließlich in einem meditativen Zustand zurück. Und weil Forschung per se nie abgeschlossen sein kann, erhalten wir lediglich Einblick in einen künstlerischen Prozess, der schließlich ganz passend ins Fade-Out ohne Applaus übergeht.
Es ist ein Abend über Physik, doch vor allem für die Kunst. So kann man der Performance auch als Physikmuffel etwas abgewinnen. Was sich überträgt, ist der Spaß am szenischen Experiment, das sich Zeit und Raum ohne Entertainment-Zwang nimmt.