Portrait, Tiny Residencies 15.12.2022

Gute Geister

Locu&Ruth
© Locu&Ruth

Das Performance-Duo Locu&Ruth erforschte in Netphen-Deuz die Dunkelheit und entwickelte einen Spaziergang mit Überraschungen. Unsere Autorin ging mit, erfuhr vieles übers Fürchten und erlebte die Poesie der Nacht.

Es ist ein verregneter Freitag Ende November, an dem ich mich von Köln auf den Weg nach Netphen-Deuz mache. Circa anderthalb Stunden fahre ich mit dem Auto Richtung Siegen bis in das beschauliche Örtchen Deuz zur Qulturwerkstatt, wo ich Locu&Ruth für einen Tag während ihrer Tiny Residency über die Schulter schauen darf. Ich bin etwas zu früh und werde mit einem heißen Tee von Lucuratolo, der einen Hälfte des Kollektivs, empfangen.

Lucu&Ruth, das sind Marlene Ruther und Locuratolo*. Locuratolo hat Bildende Kunst, unter anderem in Antwerpen, studiert. Marlene Ruther lebt in Bochum und studierte dort Szenische Forschung. Gemeinsam ist das bewegungsaffine Performance-Kollektiv bereits seit 2018 mit ihrer Arbeit „Still Standing“ an den unterschiedlichsten Orten und auf Festivals zu Gast. Der Name ist Programm: Locu&Ruth stehen während der Performance jeweils für 20 Minuten still. Ob vor einer Schleuße, im Wald oder auf einer Demonstration: Sie stehen, lassen die Umgebung auf sich wirken und wirken wiederum durch ihren Stillstand auf ihre Umgebung ein. Ihren jeweiligen Stillstand halten sie auf Video fest.

Hier in der Qulturwerkstatt sind sie jetzt, um ein neues Projekt zu entwickeln. Sie forschen zu Dunkelheit und was damit assoziiert wird: Geister, Sterben, Gruseln. Die Idee kam dem Duo, nachdem Locuratolo einen heftigen Fahrradunfall hatte. „Ich habe mich gefragt, was eigentlich mit meiner Kunst passiert, wenn ich sterbe: Werde ich einfach weiter irgendwo rumstehen?“, erklärt Locuratolo. Daraufhin hätten sie gemeinsam das Konzept zu „Exploring the Dark“ entwickelt. Die Arbeitsweise, bzw. das Projekt ist insofern neu für Locu&Ruth, als dass die Dunkelheit andere performative Mittel erfordert. Stillstand sei immer noch ein Thema, doch um die Dunkelheit für das Publikum erfahrbar zu machen, wählen sie nun einen gemeinsamen Spaziergang als Form. Außerdem bieten sie während ihrer Zeit in Deuz zwei Bewegungsworkshops an, wo sie sich einmal mit Kindern und einmal mit Erwachsenen der Dunkelheit annähern wollen.

Inzwischen ist auch Marlene angekommen. Sie trägt eine Langlaufhose und Wanderstiefel, aus denen sie sich erstmal herausschälen muss. Ich bemerke, dass ich mit Sneakers und Wollmantel wohl falsch angezogen bin. Die beiden erzählen mir schmunzelnd, dass sie sich zu Beginn ihrer Residency ebenfalls erst einmal eine Paketlieferung an wetterfester Winterkleidung von zu Hause haben schicken lassen. Jetzt sind voll ausgestattet mit Regenjacken, Skihosen und Wanderstiefeln, denn ihre Arbeit in Deuz findet hauptsächlich draußen statt. Hier in der „Qüche“ der Qulturwerkstatt sind sie heute nur, um sich aufzuwärmen, Kleinigkeiten für den abendlichen Spaziergang vorzubereiten und mir von ihrer Zeit in Netphen-Deuz zu berichten.

Locu&Ruth haben das In-der-Natur Sein – vor allem im Dunkeln – zum Projekt gemacht. Und das wollen sie während ihres Aufenthalts so intensiv wie möglich erforschen. Das Duo ist im benachbarten Dorf Beienbach untergebracht und als Teil ihrer Recherche gehen sie täglich die Strecke nach Deuz und wieder zurück zu Fuß durch den Wald – und das bei jedem Wetter und zu jeder Uhrzeit. Eine Strecke dauert ungefähr 45 Minuten, insgesamt gehen die beiden mit ihren örtliche Erkundungstouren circa 15 km am Tag. Die Residenz sollte deshalb an einem Ort in der Natur und in Waldnähe stattfinden. „Ich kannte die Gegend, weil ich schon einmal in der Nähe wandern war“, erzählt Marlene. Daher hätten sie sich in der Qulturwerkstatt beworben. Den Wald in der Dunkelheit zu erleben und die eigenen körperlichen Reaktionen wahrzunehmen, war von vorneherein das Ziel. Einer der Gastgeber*innen der Qulturwerkstatt, Stefan Bünnig, hat Locu&Ruth den Kontakt zu einem ortsansässigen Jäger vermittelt, mit dem sie einen Abend lang gemeinsam im Wald auf einem Hochsitz waren. Sie wollten herausfinden, wie sich ein Jäger in der Dunkelheit bewegt und was die Natur in der Nacht ausmacht.

Wir sprechen viel über die Angst vor der Dunkelheit und ihre verschiedenen Ausprägungen. Das Spannende sei, sagt Locuratolo, dass Angst ja im Grunde die Angst um den eigenen Körper sei, dass diesem etwas zustoßen, er verletzt werden könnte. Die größte Angst für die einen sei die vor den Tieren im Wald, für die anderen die Angst, einem fremden Menschen zu begegnen.

Aber auch mit verschiedenen anderen Ortsansässigen haben Locu&Ruth in ihrer Zeit in Deuz gesprochen. Sie fragten nach Gespenstergeschichten in der Gegend und nach den Assoziationen der Anwohner*innen von Dunkelheit. Viele Gespenstergeschichten gibt es nicht, aber es soll in der nahegelegenen Wasserburg Hainchen einen Hausgeist geben. Gemeinsam verbringen wir den Rest des Tages mit den Vorbereitungen für den geführten Spaziergang am Abend, wobei sie mir allerdings nicht zu viel verraten wollen, und so laufe ich einfach mit, ohne große Fragen zu stellen. Wir gehen zu einem Getränkemarkt, sie schreiben mit Geheimstiften Texte auf Papier und müssen eine übergroße Keramikkröte an einen geheimen Ort bringen. Meine Spannung steigt.

Um 18 Uhr startet dann der Spaziergang „Exploring the Dark“ für Kinder und Erwachsene. Der Regen hält leider die allermeisten Netphener davon ab, sich gemeinsam mit Locu&Ruth auf den Weg zu machen. Wir sind nur eine kleine Gruppe, die sich nun durch die Dunkelheit bewegt. Locu&Ruth raten zu Beginn, genau zu horchen und darauf zu vertrauen, dass die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Schweigend spazieren wir los und erkunden unsere Umgebung. Auf einem Spielplatz halten wir an und bekommen Fotos einer Nachtsichtkamera zu sehen: auf den Bildern der Spielplatz und da, ganz deutlich, ein weißes Gespenst! Und es gibt noch mehr Hinweise. Marlene hat ein Mikrophon dabei, mit dem sie die Umgebungsgeräusche verstärkt, aber auch immer wieder eigene atmosphärische Geräusche produziert. Kratzen, Rauschen oder leises Geheul sind zu hören. Wir begeben uns auf die Suche nach dem Gespenst. Locu&Ruth führen uns durch Deuz, durch kleine dunkle Seitenwege an Orte, die nachts sogar innerhalb des Dorfs dunkel und verwaist sind, bis hoch zum Waldrand. Am Friedhof wird es ein bisschen unheimlich, doch in der Gruppe fühlen wir uns sicher. Schon jetzt nehme ich meine Umgebung ganz anders und sehr bewusst war.

Locuratolo geht voraus und hält immer wieder schweigend inne, lenkt so unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Weise. Alles, was wir hören und sehen wird Teil dieses Erlebnisses. Was ist von den beiden inszeniert, was Zufall? Der Schimmer der Grabkerzen auf dem Friedhof, ein bellender Hund in der Ferne, das Geräusch unserer Schritte, verstärkt durch Marlenes Aufnahmegerät. Auch Locu&Ruth sprechen nur selten. In einem Wohngebiet finden wir ungewöhnlich viel Moos. Der Beweis, dass wir es mit einem gutmütigen Moosgeist zu tun haben, der die Anwohner*innen beschützt? Vielleicht der gute Hausgeist der Wasserburg Hainchen?

Unser Weg führt uns jetzt wieder zurück zum Dorfkern, wo wir plötzlich vor dem Getränkemarkt des Vormittags stehen. Immer noch schweigend folgen wir Locuratolo durch die hell erleuchteten Gänge. Auch das ist wieder eine eigenartige und intensive Erfahrung, nachdem die Sinne sich so sehr auf die Dunkelheit eingestellt hatten. Zuletzt gehen wir noch einmal durch ein Waldstück auf die Rückseite eines Tennisclubs. Dort finden wir die Kröte. Wieder ein Hinweis? Auf was? Wir entdecken ein weißes Blatt Papier, mit Geheimtinte beschrieben. Nur mit blauem Licht lässt sich die kurze Gespenstergeschichte darauf lesbar machen, die wir vorgelesen bekommen, bevor wir uns auf den Rückweg machen.

Das Gespenst selbst haben wir nicht gefunden, aber dafür so viel anderes erlebt und die Dunkelheit ganz neu kennengelernt. Nach anderthalb Stunden kommen wir wieder an der Qulturwerkstatt an. Wir machen ein Erinnerungsfoto. Und dann doch: Ganz plötzlich erscheint es wirklich – das Gespenst in weißen Laken! Es scheint gut gelaunt zu sein, postet mit uns fürs Foto, bis es genauso plötzlich wieder hinter der Hausecke verschwindet.

Am Ende kam der Geist also doch zu uns, noch ein Highlight zum Abschluss dieser ganz besonderen Expedition ins Dunkel. Jetzt gibt es noch heiße Linsensuppe und Kinderpunsch in der Qüche der Qulturwerksatt, wo wir uns gegenseitig von den Geschichten erzählen, die während des Spaziergangs in unseren Köpfen entstanden sind. Voll mit den Eindrücken des Tages, aufgewärmt und mit einer neuen Vertrautheit zur Stille draußen mache ich mich durch die Dunkelheit auf den Weg zurück nach Köln.

*Locuratolo benutzt die englischsprachigen Pronomen they/them. Für den besseren Lesefluss wird Locuratolo hier im Text daher im Folgenden immer namentlich genannt.

Genre

Künstlerische Recherche, Workshop

Kommentare

Laura Becker
Laura Becker
studierte Philosophie und Soziologie und lebt in Köln. Neben ihrer Autorinnenschaft bei kritik-gestalten, schreibt sie für FIDENA und ist freischaffende Produktionsleiterin und Dramaturgin sowie Teil der Projektagentur Local International in Bonn.