Portrait 22.10.2022

Hamsterrad und Horizont

Map to Utopia / fringe ensemble
© Tanja Evers

Das Fringe Ensemble lässt das Publikum im preisgekrönten Stück „Map to Utopia“ selbst zu Stadtplaner*innen werden.

Schon die Eintrittskarte verrät, in welchem Stadtteil ich lebe: rot. Aber es gibt auch blau, grün und gelb. Die Zuschauer*innen des Theaterstücks „Map to Utopia“ des Fringe-Ensembles werden zu Bewohner*innen einer fiktiven Stadt erklärt. In Gruppen sitzen wir auf der Bühne des Bonner Theaters im Ballsaal, bilden unser eigenes Quartier, dessen Zukunft wir nun gemeinsam gestalten. In einer Art Übersetzer-Kabine sitzt eine der Fringe-Schauspielerinnen und moderiert. In der Mitte der Bühne stehen zwei große Bildschirme, auf der die Online-Stadtbewohner*innen zugeschaltet sind. „Map to Utopia“ ist eine Art interaktives Computerspiel, ein Experiment, analog und digital zugleich. Vor Beginn haben alle eine App heruntergeladen, designt von der türkischen Künstlerin Fehime Seven, die uns eine Rolle zuweist. Ich bin ein geschiedener Immobilienmakler, der nicht will, dass eine leerstehende Fabrik von Obdachlosen genutzt wird. Die anderen wollen aus dem Gebäude ein Upcycling-Projekt machen – und so kriegen wir uns jetzt richtig in die Haare. „Map to Utopia“ ist eine Koproduktion mit dem türkischen „Platform Tiyatro. Viele der urbanen Konflikte sind vom realen Istanbul inspiriert – und daher findet der Abend abwechselnd auf Deutsch und auf Englisch statt, auch internationale Zuschauende schalten sich dazu. Entstanden ist „Map to Utopia“ während der Pandemie als reines Online-Projekt, aber die reale Diskussion im Theater im Ballsaal ist noch spannender. Echte und fiktive Rollen verschmelzen: Da gibt es etwa ein junges Paar, Baby bei den Großeltern gelassen, die noch nie im Theater waren – und eine Aktivistin, die heute Abend ernsthaft nach Utopien sucht und später etwas enttäuscht nach Hause gehen wird. Mit Hinweisen wird die Diskussion von den Schauspieler*innen gelenkt. Ein Schlüssel (der analog allerdings klemmt) öffnet ein Kästchen mit dem Brief des früheren Fabrikbesitzers, der sich ein nachhaltiges Erbe wünscht. Am Schluss der zwei Spielstunden einigen wir uns auf eine Upcycling-Fabrik, in der auch Obdachlose mitarbeiten. Für große, echte Utopien sind die zwei Stunden viel zu kurz. Und doch fühlt man sich solidarisch gestärkt nach diesem Abend, der die Gedanken schärft zu einem Thema, das uns alle massiv betrifft – die Zukunft der Städte. 

Wahnsinn und Wiederaufnahmen 

Das Theaterstück „Map to Utopia“ hätte ohne das Förderprogramm „Raus ins Land“ nicht so ohne Weiteres wieder aufgenommen werden können. Zwar wurde es weltweit rund 25 Mal gespielt – doch das ist eher Ausnahme in der Freien Szene, wo die Art der Theaterförderung erzwingt, dass viele Ensembles zwei Premieren im Jahr haben müssen, die aber nur drei- bis fünfmal gespielt werden können. Das beschäftigt den Gründer des Fringe Ensembles Frank Heuel gerade stark: „Welch ein Wahnsinn, welche Verschwendung – das ist einfach nicht nachhaltig“, sagt er. Die Wiederabspielförderung durch „Raus ins Land“ findet er dagegen extrem sinnvoll: „Das sollte es viel mehr geben. Genau das holt uns aus dem Produktionsdruck heraus. Es wird viel zu viel produziert.“ Nicht gerade wenig hat auch das Fringe Ensemble seit seiner Gründung gemacht: Rund 100 Projekte sind entstanden in diesen rund 20 Jahren. Und während der zwei Corona-Jahre haben sie dann wirklich rausgehauen, neben digitalen Experimenten auch formal eher klassische Stücke wie der Live-Stream-Monolog „Der Teufel“ nach Dostojewski aus der Berliner Wohnung des Schauspielers David Fischer, oder die texttreue, aber sehr schöne Roman-Adaption „Die Vögel“ von Tarjei Vesaas. 

Weniger Beschleunigung wagen 

Das Hamsterrad der Freien Szene, sagt Heuel, drehe sich immer schneller. Wenn das Fringe Ensemble nicht das Theater im Ballsaal als feste Spielstätte mit dem Cocoon Dance Ensemble nutzen würde, würde die Gruppe – trotz der seit zwei Jahren bestehenden Spitzenförderung des Landes NRW – unter einem ähnlichen Erfolgsdruck stehen. „Früher wurde eine erfolgreiche Inszenierung 40-50 Mal gespielt, an verschiedenen Orten – aber auf diese Zahlen kommt niemand mehr“, sagt Heuel. Das Fringe Ensemble versuche daher bewusst, nachhaltiger zu agieren, spielt fast alle Premieren auch im Pumpenhaus Münster, ist regelmäßig im Orangerie-Theater in Köln zu Gast. So diverse regelmäßige Auftrittsorte hat nicht jede freie Gruppe in NRW. Daher ist Heuel überzeugt: „Es sollten mehr Wiederaufnahmen gefördert werden – damit würde man auch kleinen Produktionshäusern helfen.“ Und die Ensembles hätten viel weniger Druck. Besonders durch Corona hätte sich die Arbeit zusätzlich beschleunigt: „Durch die Neustart-Kultur-Förderungen, die so großzügig gegeben wurden, haben auch wir in dieser Zeit produziert wie wahnsinnig. Wir mussten dafür unsere Struktur deutlich erweitern, das hätten wir sonst gar nicht geschafft: Anträge stellen, schreiben, abrechnen, Geld verwalten, organisieren.“ 

Gründungskommune mit Pfeffer 

fringe ensemble

© fringe ensemble

Gegründet wurde der Vorläufer des Fringe Ensembles im Jahr 1988. Frank Heuel, der im ersten Beruf Agraringenieur war, wollte mit einem „Jubiläums-Ensemble“ mit sieben freien Schauspieler*innen ein Stück zum Jubiläum von George Tabori inszenieren – es lief so gut, dass die Gruppe zusammenblieb. Fünf Jahre lang arbeiteten sie erst in einer Tapetenfabrik in Bonn-Beuel, eine Art Liebes- und Lebensgemeinschaft. 1993 mieteten sie dann das „Theater im Ballsaal“, mitten in einem idyllischen Bonner Wohnviertel, im Hinterhaus eines auch damals schon florierenden Irish Pubs. Mehrere Paare bildeten sich, gingen auseinander, kamen anders wieder zusammen, Kinder wurden geboren: „Das war eine richtige Kommune, das hatte Pfeffer“, erzählt Frank Heuel nach „Map to Utopia“ am langen Tisch des Foyers. Das Theater im Ballsaal, so Heuel, wurde jedoch immer mehr wie ein kleines Stadttheater, gefüllt mit Shakespeare-Stücken, die Zuschauer*innen anlocken sollten: „Fallen, in die man als freies Theater hineintappt, das gefiel mir bald überhaupt nicht mehr“. 1999 gründete er also ein neues Ensemble. Der Name „Fringe“ (englisch für Rand oder Franse) wurde zum Programm: Frei und peripher wollten sie agieren, sich nicht vereinnahmen lassen. Aus fünf Personen besteht das Kernteam heute: Frank Heuel als künstlerischer Leiter, Annika Ley als Bühnenbildnerin, Produktionsmanagerinnen Jennifer Merten und Svenja Pauka, sowie Claudia Grönemeyer für Dramaturgie und PR-Arbeit. Mit rund 15 Schauspieler*innen arbeiten sie regelmäßig, etwa mit Oleg Zhukov oder Justine Hauer aus Köln, aber auch von weiter weg: Laila Nielsen in Leipzig, Manuel Fischer in Berlin, Manuel Klein in London Tony Ouedraogo sogar in Ouagadougou, Burkina Faso.

Von perversen Kreisläufen und globalen Perspektivwechseln  

Ohnehin sind sie mit dessen westafrikanischen Künstlerkollektiv Collectif Qu’on Sonne & Voix-ailes in Ouagadougou tief verbunden, in den letzten Jahren sind zusammen zwei extrem wichtige Projekte zu den dunklen Seiten des Goldes entstanden. Das bitterarme Land, das kulturell so reich ist, aber zurzeit politisch instabil, liegt dem ehemaligen Agraringenieur Heuel besonders am Herzen. Die zwei Gold-Projekte spürten absurden Widersprüchen von globalem Norden und Süden nach: für die einen Statussymbol und Sicherheit, für die anderen Katastrophe, die Trinkwasser, Agrarflächen, eine Gesellschaft zerstört – die über diese Zusammenhänge nicht viel weiß. Und als sie wegen Corona ihre Tournee durch das Land nicht antreten konnten, schickten sie die Mittel dafür zu den burkinischen Künstler*innen. Diese machten „Gold“ zu einem eigenen Stück, das mit Videos des Fringe-Ensembles durch das Land zieht, auf Plätzen und Innenhöfen spielt. „Wir haben den Deal, dass sie genauso gut bezahlt werden wie wir, damit sie dort etwas weitergeben können“, sagt Heuel. 

Auch das Projekt, an dem Fringe zurzeit probt, spielt in und mit Burkina Faso. „Cotton Club“ – im Januar 2023 soll Premiere sein – beschäftigt sich mit den Problemen des Baumwoll-Anbaus vor Ort: gefördert durch Entwicklungshilfe, und zugleich zugrunde gerichtet durch westliche Subventionen und Knebelverträge mit Saatgutfirmen. Ein perverser Kreislauf, der Hungersnöte provoziert. 

Und so ist das Fringe Ensemble in über zwanzig Jahren zu einem der wichtigsten Theaterensembles in NRW geworden: mit richtig gutem Literaturtheater und formalen Experimenten – und politischen Themen, die sich mit den großen Fragen der Zeit beschäftigen und die Zuschauer*innen dabei tief mit hineinnehmen. 

Genre

Performance, Schauspiel

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Dorothea Marcus
Dorothea Marcus
ist freiberufliche Kulturjournalistin und Theaterkritikerin u.a. für DLF, WDR, Theater heute und nachtkritik.de. 2016-2019 war sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Sie moderiert Podiumsdiskussionen, gibt Lehrveranstaltungen und ist Mitgründerin von kritik-gestalten.