Portrait, Tiny Residencies 21.12.2022

Hoffnungsschimmer Hip-Hop oder Ein Knast voller Kunst

Hoffnungsschimmer Hip-Hop oder Ein Knast voller Kunst

„Knast“ und „Kunst“ trennt nur ein Buchstabe und doch liegen ganze Welten dazwischen. Oder? Das Tänzer*innenpaar Katharina Richter und Paul Damiano haben gemeinsam mit dem Musiker Nils van Helden ihren Hip-Hop in die JVA Heinsberg gebracht und damit nicht nur die Gefängnisinsassen, sondern auch unsere Autorin tief bewegt.

Ganz selbstverständlich laufe ich an diesem Mittag auf die Eingangstür der JVA Heinsberg zu und will sie aufdrücken. Doch sie ist verschlossen. Eine Kamera piept, eine Linse surrt, eine Stimme ertönt: „Wer sind Sie?“ Natürlich kann man in eine Jugendvollzugsanstalt nicht einfach hereinspazieren wie in ein Theater. Ich muss draußen warten. Nach und nach gesellen sich weitere Gäst*innen dazu. Eine Handvoll auserwählter Menschen, die bei der heutigen Präsentation zuschauen darf. Langsam steigt die Aufregung und erst jetzt fällt mir auf: Ich bin noch nie in einem Gefängnis gewesen. Was für mich zunächst nur ein Termin unter vielen in dieser Woche war, soll sich langsam zu einem aufregenden Erlebnis entwickeln.

Endlich dürfen wir rein. Die Handys müssen ausgeschaltet und abgegeben werden, bevor wir durch die Gänge der JVA geführt werden. Ein beklemmendes Gefühl stellt sich ein und das Kopfkino geht los: Hinter all diesen schweren Türen sitzen junge Menschen Tag für Tag ihre Strafe ab. Auf sechs Quadratmetern, ganz allein. Als wir schließlich eine Art Aula erreichen, ist von dieser Einsamkeit jedoch keine Spur mehr. Vielmehr erinnert die Atmosphäre an ein Schulfest: links ein kleines Büffet, rechts werden selbstgeschmiedete Skulpturen verkauft, weiter hinten eine große Bühne. Davor tummeln sich die männlichen Insassen, lachen, rufen sich Witze entgegen, sind nervös vor ihrer Aufführung. Ganz normale Jugendliche – wäre da nicht die beige-olivgrüne Uniform, durch die sie ganz klar als Häftlinge markiert werden. Auf der Bühne jedoch dürfen diese Kleidungsstücke heute gegen Kostümierungen ausgetauscht werden und die jungen Männer wenigstens für ein paar Stunden in eine andere Rolle schlüpfen.

Easy Vibes hinter Gittern?

„Knastkulturwoche“ heißt dieses Projekt, mit dem der Justizvollzug des Landes NRW Kunst- und Kulturprojekte in die Gefängnisse bringt, indem Künstler*innen gemeinsam mit den Insassen eigene Kunstwerke erarbeiten. So auch hier in der JVA Heinsberg, in der an diesem Mittag die Endpräsentation der künstlerischen Arbeit erfolgt. Neben zwei kurzen Theaterstücken, einem Trommelsolo, einem Haka, dem rituellen Tanz der Māori, und zwei Rap-Einlagen gehört auch eine Hip-Hop-Performance zur Darbietung. Neben der Bühne formiert sich eine Gruppe von Jungs in Jogginghosen, der Colorcode ist beige, grün, naturbelassen, ähnlich der Gefängniskleidung, aber doch ganz anders. Aus den Boxen flowt ein mitreißender Hip-Hop-Beat und die Performance beginnt: Zwei der jungen Männer treffen sich auf der Mitte der Bühne. Der eine berührt den anderen an der Schulter. Die Schulter friert ein. Er berührt ihn am Arm, der Arm hebt sich und lässt sich biegen. Er drückt ihn nach hinten. Der ganze Körper folgt dem Impuls und erstarrt. Hier manipuliert ein Mensch einen anderen. Der eine legt die Bewegung fest, der andere muss folgen. Oder formt hier ein Mensch einen anderen? Gibt ihm stärkende Impulse, die er annimmt? Dieses Bewegungsspiel übernimmt nun die ganze Gruppe, weitere Tänzer kommen auf die Bühne, bis plötzlich einer in der Mitte steht und von allen manipuliert wird. Oder zum Positiven geformt?

Mit auf der Bühne tanzen auch Katharina Richter und ihr Ehemann Paul Damiano. Sie sprühen vor Energie, flowen mit den Jungs und sind in der Gruppe doch klar erkennbar als Profitänzer*innen. Sie formieren sich mit den Häftlingen zu einem Pulk und tanzen gemeinsam eine synchrone Choreografie. Viele Einzelkämpfer verbinden sich hier im gleichen Schicksal und man sieht den jungen Häftlingen an, wie gut sie sich damit fühlen. Anders als bei den vorherigen Schauspiel-Akten der Knastkulturwoche, bei denen viel Unsicherheit weg gelacht wurde, sind bei dieser Hip-Hop-Choreo alle voll dabei, fühlen sich gut, fühlen sich cool. Am Ende verlassen sie im Beat vereinzelt die Bühne. Vielleicht ein Ausblick darauf, was nach dem Gefängnis kommt. Dann sind sie wieder in Freiheit und gleichzeitig auf sich allein gestellt.

Nach der Performance gibt es noch eine spontane Zugabe mit einem Rapper aus Duisburg, der zuvor schon sein Können unter Beweis gestellt hat: „Wo sind meine Jungs?“ ruft Katharina in den Applaus hinein. Sie wirkt entspannt, locker und extrem cool. Man kann sich vorstellen, dass sie „ihren Jungs“ vollkommen auf Augenhöhe begegnet. Die Hip-Hop-Gruppe erobert erneut die Bühne für eine Improvisation im Cypher, also einem Kreis aus Leuten, in dem sich zwei Tänzer*innen battlen. Die anfängliche Anspannung löst sich, als sich der erste Häftling in die Mitte traut und sich lässig zum Beat bewegt. Davon werden auch die anderen motiviert und so befreien sich die Jungs von ihren Ängsten und performen, lassen ihre Körper frei und haben sichtlich Spaß.

Es ist die letzte Performance des Tages, was bedeutet: Die Häftlinge müssen zurück auf ihre Zellen. Ich lasse noch einmal den Blick über diese jungen Männer streifen. Zwischen 14 und 24 Jahre sind sie alt. Einer kommt zu mir, flirtet und fragt, ob ich ihn mal besuchen komme. Er ist 21 und sitzt seit fünf Jahren – fünf weitere stehen noch aus. Was hat er wohl verbrochen? Ich kann nicht anders, als darüber nachzudenken: Was muss alles schief laufen, um in so jungen Jahren im Gefängnis zu landen? Die Jungs sind schwer einzufangen nach dieser willkommenen Ablenkung im tristen Gefängnisalltag, euphorisch und aufgedreht. Als eine Gefängniswärterin schließlich in harschem Ton alle zusammentrommelt, damit sie ihre Kostüme wieder gegen die uniforme Gefängniskleidung wechseln, durchfährt mich ein Schauder. Jetzt heißt es: zurück auf sechs Quadratmeter. Ich bin schließlich froh, das Gefängnis wieder verlassen und draußen einmal durchatmen zu können. Dieser Tag lässt mich bewegt und mit vielen Fragen zurück, die ich den Künstler*innen im Nachgespräch stellen darf.

Hip-Hop als Alternativkontext

Wir sitzen in einem kleinen Café auf der anderen Seite der JVA. Zwischen uns und den Häftlingen der Baggersee „Lago Laprello“. Neben mir Katharina, Paul und der Musiker Nils van Helden, der die Tracks für die Performance komponiert und den Kontakt zur JVA hergestellt hat. Genau wie Katharina kommt er aus dem Kreis Heinsberg, die beiden kennen sich bereits seit acht Jahren. Nils fing 2015 mit der Arbeit im Gefängnis an, gab als Schüler einer Musikschule Trommelworkshops in der hiesigen JVA und blieb. Aus dem anfänglichen Trommeln entstanden aufwendige Workshops, in denen jugendliche Straftäter selbst musizieren und komponieren konnten: „Es war ein erfolgreiches Projekt und seitdem boomt diese Arbeit in ganz Deutschland. Da war ich eine Art Vorreiter. Wenn die Häftlinge auf etwas wirklich Bock haben, kommt 100 Prozent Leidenschaft dabei heraus.“ Dass diese Leidenschaft auch von Hip-Hop entfacht werden könnte, hat er geahnt und Katharina mit ins Boot geholt. Das erste Mal haben sich die beiden 2019 zu einem gemeinsamen Projekt zusammengeschlossen, doch die Finanzierung über die JVA war kaum möglich. Jetzt kehrte die Idee zurück auf die Agenda: mit der nötigen finanziellen Unterstützung durch die Tiny-Residency-Förderung des NRW Landesbüros Freie Darstellende Künste und tänzerische Verstärkung von Katharinas Ehemann Paul: „Für mich war es wichtig, ihn in die JVA zu bringen“, erklärt sie, die Paul in Kenia kennengelernt hat, „Er ist ein Mensch mit Migrationshintergrund. Er ist Person of Color und er ist ein Mann. Die Jungs fühlen sich deshalb mit ihm ganz anders verbunden als mit mir.“ Paul kann das bestätigen: „Wenn sie jemanden mit einem anderen kulturellen Hintergrund sehen, jemanden der Schwarz ist, hat das eine andere Bedeutung. Aber auch darüber hinaus konnten sie sich mit mir identifizieren: Die Deutsche Sprache ist für mich schwierig und ich versuche sie trotzdem zu sprechen. Für sie ist Tanzen schwierig, es ist neu und sie fühlen sich unsicher, aber sie sehen: Ich versuche es und so erlauben sie sich auch, etwas Neues zu probieren.“

Bei der Darbietung im Gefängnis hatte ich den Eindruck, dass sich die Häftlinge mit ihrem Rap und der Hip-Hop-Darbietung sehr wohl gefühlt haben. Katharina kennt den Grund dafür: „Urbaner Tanz ist unter Menschen mit Migrationshintergrund entstanden als Alternativkontext. Viele Jungs aus der JVA haben einen Migrationshintergrund. Wir kennen auch Leute aus der Tanzszene, die Straftäter waren und es jetzt nicht mehr sind.“ Ihr ist das wichtig zu betonen: Es sei eben nicht nur ein abgeschlossenes Kunstprojekt, das mit der heutigen Darbietung endet. Der Tanz könne auch nach der Haft ein Türöffner sein, eine Möglichkeit, „sich von Bullshit fernzuhalten.“ Umso schöner ist es, dass sich Häftlinge bereits jetzt für eine Zukunft im Tanz interessieren. Paul erzählt davon, dass einer aus der Gruppe unbedingt bei ihnen tanzen will: „Er war nicht der beste Tänzer, aber er hatte große Lust und konnte sich ablenken. Es hat ihm Hoffnung gegeben und wenn er draußen ist, kann er übers Tanzen neue Leute kennenlernen. Ich habe ihn nie gefragt, was er gemacht hat, aber er sitzt bereits seit drei Jahren.“

 „Kein Mensch ist perfekt“

Anders als bei diesem Häftling wissen die drei Künstler*innen bei den meisten Insassen über ihre Taten Bescheid, weil sie untereinander offen darüber sprechen: „Die erste Frage in den Raucherpausen ist meistens: ‚Boah Bruder, was hast du gemacht?‘“, erzählt Katharina. Das habe sie bei ihrer Arbeit jedoch nicht beeinflusst: „Die Jungs fragen sich gegenseitig, damit sie sich einordnen können. Am Anfang meiner Arbeit hier wollte ich es wissen, aber dann war es mir egal. Eigentlich sind es Menschen, Schüler, wie alle anderen. Kein Mensch ist perfekt“, erklärt Nils.

Der Unterricht jedoch sei nicht so wie jeder andere, denn in der JVA herrschen strenge Regeln. Sie hätten beispielsweise nicht mit mehr als acht Schülern trainieren und sich nur einmal in der Woche treffen dürfen, freitags für drei Stunden. Da die Jungs keinerlei Vorkenntnisse hatten, fingen sie mit Basics an, mit Raumläufen, Begegnungen und Posen. So hätten sie herausgefunden, wie sie sich bewegen und miteinander interagieren. Bei der Musik habe vor allem die Vorliebe der Häftlinge im Mittelpunkt gestanden: „Was für Musik mögen sie? Hip-Hop? Oldschool? Die junge Generation mag meistens Trap“, erzählt Katharina. Gemeinsam haben sie Songs ausgesucht, die Nils dann neu interpretiert hat. „Wir haben unser eigenes Universum geschaffen“, berichtet er begeistert, „etwas ganz eigenes.“

Genau das ist es, was man den Jungs auf der Bühne angemerkt hat: Die Freude darüber, dass sich Menschen „von draußen“ mit ihnen beschäftigen und gemeinsam mit ihnen schöne Erinnerungen in dem sonst so schweren Gefängnisalltag kreieren. Nicht umsonst heißt das Projekt „Captivated“, was so viel bedeutet wie von etwas gefesselt oder gefangen zu sein – aber im positiven Sinne. Auch Katharina scheint von ihrer Arbeit „captivated“: „Niemand bedankt sich je bei den Häftlingen. Aber wir haben das immer getan und ihnen gesagt: Danke für eure Geduld, für euer Interesse, dafür, dass ihr euch öffnet und verletzbar macht, dass ihr euch ausprobiert und uns vertraut. Damit macht ihr unsere Arbeit nicht schwer.“

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Simone Saftig
Simone Saftig
studierte Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften. Sie arbeitet am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und schreibt als freie Autorin neben kritik-gestalten auch für Theaterfestivals und den RuhrBühnen-Blog.