Interview 31.12.2022

„Wir wollen eine Einladung an unser Publikum aussprechen“

Spielerische Hompepage / Anna Kpok
© Anna Kpok, Grit Schuster

Anna Kpok hat eine spielbare Website und ein Theater-Game entwickelt, in dem das Publikum virtuell das Arbeiten des Kollektivs erleben kann – und ihr Bochum. Almut Pape und Klaas Werner über Offenheit, Barrieren und ein virtuelles Ladenlokal.

Alles beginnt an einem Gleis des Bochumer Hauptbahnhofs.  Wobei das so auch nicht ganz stimmt. Es ist schon eine recht stilisierte Version von Bochum und seinem Hauptbahnhof, in der sich Spieler*innen des Online-Games „Annas Suche“ wiederfinden. Man erkennt hier, wie auch an allen anderen Orten des Spiels, Details wieder. Aber es ist eine künstlerisch gestaltete Version von Bochum, die das Kollektiv Anna Kpok für ihr Archiv-Spiel geschaffen hat. Diese „verschrobene“ Version der Stadt schafft Freiräume und ermöglicht zugleich einen anderen Blick auf die Wirklichkeit. Insofern ist dieses Online-3D-Spiel typisch für die Arbeit des freien Kollektivs, das sich 2009 in Bochum gegründet hat und seither Theater-Games für den analogen wie den digitalen Raum entwickelt. Durch die Spielsituation, in der die Spielerinnen und Spieler eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und damit den Verlauf des Spiels bestimmen, werden die (Macht)Verhältnisse zwischen den Machern und dem Publikum neugeordnet. Zugleich kann die Spielsituation die Wirklichkeit okkupieren und eine neue Realität erschaffen. Darin liegt ein unwiderstehlicher Reiz. Aber diese Theater-Games bringen für das Publikum auch die eine oder andere Hemmschwelle mit sich. Denn man kann im Vorfeld nie sicher sein, was einem im Lauf des Spiels erwartet. Und genau bei dieser Unsicherheit setzt das Projekt „Spielbare Homepage“ an. Almut Pape und Klaas Werner, zwei Mitglied des Kollektivs über Offenheit, Barrieren und ein virtuelles Ladenlokal.

Ihr nennt Euer Projekt „Spielbare Homepage“. Was macht eine Homepage spielbar?

Almut Pape: Eigentlich hat unser Konzept zwei Seiten. Es gibt das Spiel, und es wird eine neue, überarbeitete Version unserer Webseite geben. Natürlich geht beides Hand in Hand. Wir arbeiten schließlich gerade parallel an dem Spiel und der Webseite. Aber es gibt auch eine Trennlinie. Das Spiel, das nun „Annas Suche“ heißt, geht zurück auf einen Entwurf, der 2021 im Rahmen der Akademie „Geschichte wird gemacht“ des Impulse-Festivals entstanden ist. Was wir damals in Düsseldorf präsentiert haben, war die Beta-Version des heutigen Spiels. Das Kernstück des Spiels sind, damals wie heute, die Interviews, die ich mit Mitgliedern unseres Kollektivs geführt habe. Verändert hat sich, wie die Erinnerungen der einzelnen Annas eingebunden sind und wie die Welt, durch die sich die Spieler*innen bewegen, aussieht. So arbeiten wir jetzt mit einer Karte von Bochum. Dadurch ist die Stadt besser zu erkennen. Aber inhaltlich geht es weiter darum, den Spieler*innen die Möglichkeit zu geben, das kollektive Arbeiten von Anna Kpok zu erkunden.

Anna Kpok

© Heike Kandalowski

Klaas Werner: Das Spiel ist ein Angebot, uns besser kennenzulernen, und fügt sich damit in das größere Konzept der Überarbeitung unserer Webseite ein. Zum einen soll unsere Homepage übersichtlich sein, sodass die Nutzer:innen sehr schnell finden, wonach sie suchen. Zum anderen soll unsere Webseite aber auch jenseits des Spiels spielerische Elemente enthalten. In ihnen soll schon ein bisschen erfahrbar werden, was unsere Ästhetiken sind und wie man mit uns interagiert.

Die Idee, eine Webseite zu kreieren, die Eure Ästhetiken und Arbeitsweisen spiegelt, klingt wirklich spannend, aber auch nach einer Herausforderung. Was versprecht Ihr Euch davon?

Klaas Werner: Ein Merkmal vieler Produktionen der Freien Szene ist, dass sie nicht mit bekannten Stücken und Texten arbeiten. Das gilt auch für unsere Arbeiten. Wir entwickeln unsere Projekte sozusagen aus dem Nichts … natürlich nicht aus dem Nichts. Sie entstehen aus den Ideen innerhalb der Gruppe. Das heißt aber auch, für potenzielle Zuschauer*innen ist es sehr schwer einzuschätzen, worauf sie sich mit einem Besuch einer unserer Performances einlassen. Es gibt eben keinen Stücktext, den sie vielleicht sogar schonmal auf der Bühne erlebt oder von dem sie zumindest schon gehört haben. So bleiben Fragen wie „Was erwartet mich, wenn ich zu einer Arbeit von Anna Kpok gehe?“ Eine gute, möglichst aufgeräumte und zugängliche, aber eben auch spielerische Webseite könnte helfen, Fragen wie diese zumindest ansatzweise zu beantworten. Das wäre gerade für Menschen hilfreich, die über Social Media oder über die Webseiten unserer Kooperationshäuser von uns und unseren Projekten erfahren. So bekommen sie eine Ahnung davon, was es heißt, sich für ein digitales Game von Anna Kpok anzumelden oder zu einer unseren analogen Arbeiten in einen Theaterraum zu gehen.

Ihr habt es schon erwähnt. Eure Theaterarbeiten entstehen aus einem kollektiven Prozess heraus. Gilt das auch für die „spielbare Homepage“?

Klaas Werner: Lass mich kurz etwas ausholen. Seit unserer Gründung haben wir uns immer wieder mit Fragen nach Digitalität und deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft beschäftigt. Das war schon lange vor der Pandemie eines unserer zentralen Themen. Zugleich haben wir aus rein organisatorischen Gründen schon früh angefangen, über digitale Wege zu kommunizieren und gemeinschaftlich zu arbeiten. Schließlich leben die Mitglieder von Anna Kpok über ganz NRW und Berlin verstreut. Es lag also auf der Hand, Erfahrungen mit digitalen Werkzeugen, etwa mit Whiteboards, zu sammeln, die wir nun auch für die Konzeption der Webseite genutzt haben. So konnten wir an vielen Fragen gemeinschaftlich arbeiten. Allerdings gerät dieses kollektive Entwickeln an Grenzen, wenn es an die praktische Umsetzung, die Programmierung, geht. Denn irgendwann müssen Entscheidungen getroffen werden, die nicht zwangsläufig von allen getragen werden, aber aufgrund technischer Notwendigkeiten unumgänglich sind.

Das ist bei der künstlerischen Arbeit noch einmal anders. Natürlich müssen auch dort an ganz vielen Stellen Entscheidungen getroffen werden. Aber diese Entscheidungen lassen einen größeren Spielraum. Man kann auch mit gegenläufigen Inputs und mit widerstreitenden Gefühlen arbeiten und so unserem kollektiven Prozess auch im Moment einer Festlegung gerecht werden. Das ist mit Blick auf die Webseite schwieriger.

Spielerische Hompepage / Anna Kpok

© Anna Kpok, Grit Schuster

Und wie war das bei der Entwicklung von „Annas Suche“?

Almut Pape: Schon etwas anders. Allerdings ist es auch bei unseren theatralen Projekten oft so, dass der Anstoß von einer einzelnen Person aus unserem Kollektiv kommt. Deren Idee wird zum Ausgangspunkt für unsere gemeinsame Arbeit. So war es auch bei „Annas Suche“. Ich hatte Lust darauf, mich mit unserem Kollektiv, unserer Geschichte und unseren Arbeitsweisen zu beschäftigen. Im künstlerischen Alltag bleibt für eine tiefergehende Reflexion der eigenen Methoden meist nicht sehr viel Zeit. Aber wir haben im Lauf unserer gemeinsamen Arbeit so viele Praktiken entwickelt, die wir schon seit Jahren nutzen, dass es mir sinnvoll erschien, noch einmal genauer hinzusehen. So ist die Idee für die Interviews mit allen Mitgliedern von Anna Kpok entstanden, und diese Interviews bilden wiederum den Kern des Spiels. Dabei ist es mir schon wichtig, dass sich alle Annas von dem Spiel und meiner Auswahl der Interviewausschnitte repräsentiert fühlen. Allerdings gilt für die technische Umsetzung des Spiels, um die sich Grit Schuster kümmert, Ähnliches wie für die Webseite. Die technischen Möglichkeiten setzen Grenzen und machen Kompromisse erforderlich.

Ein Merkmal Eurer analogen Spiele im Theaterraum ist, dass sie alle ein Ziel, einen Endpunkt haben. Anders wäre sie kaum möglich. Hat „Annas Suche“ auch ein Ziel oder ist es ein vollkommen offenes Spiel?

Almut Pape: „Annas Suche“ ist tatsächlich komplett offen. Es gibt eine Art Zentrum innerhalb des Spiels, das ist ein Ort, an den man Dinge bringen kann. Zu dem kann man immer wieder zurück. Man bewegt sich auf unserer seltsamen, ein bisschen verschrobenen Bochumkarte und findet so verschiedene Objekte, die den Mitgliedern unseres Kollektivs wichtig sind. Diese Objekte kann man aufsammeln und mitnehmen, um sie schließlich in ein Ladenlokal zu stellen und sich dort ihre Geschichten anzuhören. Dieses Ladenlokal ist das Herzstück des Spiels, zu dem man immer wieder zurückkehren kann. Ansonsten bewegt man sich völlig frei. Es wird ein paar Rätsel geben, die es zu lösen gilt und die einen vielleicht ein bisschen leiten. Aber auch das ist keine eigentliche Lenkung. Denn es gibt keine vorgeschriebene Reihenfolge und auch keine übergeordnete Narration.

Klaas Werner: Diese Offenheit ist das Tolle an „Annas Suche“. Eine der zentralen Beschränkungen bei physischen Spielen ist die Zeit. Anna Kpok ist immer bemüht, die Spielerfahrungen, die durchaus herausfordernd sein sollen, so zu gestalten, dass eine gute Atmosphäre für alle Beteiligten entsteht. Und dazu gehört eben auch eine bewusst begrenzte Dauer. Denn ab einem gewissen Punkt würde ein Teil des Publikums aussteigen, weil es ihm schlicht zu viel wird. Insofern bietet ein Computerspiel wie „Annas Suche“ andere Rahmenbedingungen. Zeit und Dauer spielen in diesem Fall keine so große Rolle, weil die Spieler:innen selbst entscheiden, wie viel Zeit sie in der Welt des Spiels verbringen möchten.

Spielerische Hompepage / Anna Kpok

© Anna Kpok, Grit Schuster

Auf der einen Seite wollt Ihr Euer Publikum herausfordern, auf der anderen strebt Ihr nach einer möglichst großen Zugänglichkeit. Wie lassen sich diese beiden Ziele miteinander vereinbaren?

Almut Pape: Zunächst müssen wir uns eingestehen, dass es natürlich immer Barrieren geben wird. Das gilt für unsere Theaterarbeiten genauso wie für die Webseite. Deswegen ist es auch so wichtig, von vornherein so offen wie möglich zu kommunizieren, was einen in dem einen oder anderen Kontext erwartet. Außerdem ist es wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, unser Publikum in die Welten, die wir erschaffen, einzuführen.

Klaas Werner: Wir wollen bestimmte Dinge erzählen und so dem Publikum ermöglichen, bestimmte Erfahrungen zu machen. Insofern ist für uns die Frage, wie wir den Menschen möglichst nahe kommen, eine Richtschnur unseres Arbeitens. Allerdings gehört zur Kunst eben auch eine gewisse Herausforderung. Insofern schließen wir immer auch Kompromisse. Im Zweifelsfall machen wir auch mal Abstriche, um den grundsätzlichen Kommunikationsakt nicht zu gefährden. Wir wollen das Risiko, dass während des Spiels die Kommunikation zwischen uns und dem Publikum komplett abbricht, auf jeden Fall so gering wie möglich halten. Das ist im Theaterraum in gewisser Weise einfacher. Denn dort spürt man die Reaktionen des Publikums sehr direkt und kann reagieren. Insofern ist die Suche nach dem richtigen Maß auch ein Lernprozess, der mit jeder weiteren Arbeit fortschreitet. Wir wollen eine Einladung an unser Publikum aussprechen. Aber trotzdem wird es immer Begrenzungen geben.

Almut Pape: Und es ist eben keineswegs so, dass wir einfach sagen können: Jetzt bauen wir diese Begrenzungen ab. Das funktioniert nicht. Wir müssen viel eher ehrlich sein und zugeben, dass Theater-Games, wie wir sie machen, sehr voraussetzungsreich sind. Wir werden nie alle Menschen erreichen können. Aber das gilt für jede Form von Theater und letztlich auch für alle anderen Bereiche der Gesellschaft. Es ist nur wichtig, das auch zu reflektieren. Dann kann die Kunst, die so entsteht, zum Spiegel der Wirklichkeit werden.

Genre

#digitalesichtbarkeit, Website

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Sascha Westphal
Sascha Westphal
lebt und arbeitet in Dortmund als freiberuflicher Theater- und Filmkritiker u.a. für nachtkritik.de und sissymag.de, kultur.west und epd Film. Er studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Germanistik und Geschichte in Bochum. Er ist Mitgründer von kritik-gestalten und seit 2021 Juror des Berliner Theatertreffens.