Jede Art von Abgrund

Mareike Fiege und Viktoria Mletzko alias fiege_mletzko haben am Pumpenhaus Münster als Theaterkollektiv zusammengefunden. Ihre zweite Arbeit „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ nach David Foster Wallace ist intensives Literaturtheater und beklemmende Psychostudie.
Der Student ist nicht mehr auf der Erde. Als er es noch war, drückte die Depression ihn klaftertief in den Boden. Nun nimmt er seit einem Jahr Antidepressiva, die haben ihn ins All geschossen, irgendwo da oben schwebt er, auf dem Planeten Trillaphon – (inspiriert vom Medikament Tofranil). Im Elektro-Sound von Yasin Wörheide schnellen Geschosse oder Atome durchs All, rauschen, zischen, pulsieren. Schauspieler Nils Hohenhövel schlendert minutenlang schweigend im Tennisdress über die Bühne des Kulturbahnhofs Bochum Langendreer, so steril-sauber die Kleidung, so desaströs sein Seelen-Zustand. Nimmt ein paar Bälle – Tablettendragees? – aus einer sargähnlichen Badewanne, lässt sie springen, zielt auf das Toilettengebilde, auf den mit Zetteln behängten Vorhang. An der Rampe plappert und smalltalkt ein Fernseher, täuschen Lachsäcke sterile Fröhlichkeit vor. Der Künstler Wörheide, den das Theaterlabel fiege_mletzko bewusst für seine erste Theaterarbeit angefragt hat, hat auch die Bühne gestaltet. Auch der Boden ist eher symbolischer als realer Raum: bedeckt mit Fliesen-Bruchstücken, erzählt er von Abgrund, Unsicherheit, löcherigen Gewissheiten. Hohenhövel beginnt erst nach rund fünf Minuten zu sprechen, immer in Ich-Form, fast beiläufig und lakonisch. Erzählt vom Planetengefühl, dem Krankheitsbild, deutet einen Suizidversuch an, diesem „albernen Vorfall mit Elektrogeräten in der Badewanne“, und spricht dann wirklich darüber, wie sich Depression anfühlt: die gefühlte, klaffende Wunde im Gesicht, ein Loch mit Gelatine drin. Wenn er nur nicht versucht hätte, sie mit Nadel und Faden und ohne Betäubung selbst zu nähen. Und wenn er nicht dem verunglückten Busfahrer die Drogen untergeschoben hätte. Doch ein Symptom der Krankheit ist nun einmal die Selbstdestruktion, ein überbordendes Schuldgefühl, Empfindungen von scheinbar monströser Ausweglosigkeit.
David Foster Wallace war selbst noch ein 22-jähriger Student, als er 1984 den Text „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ in einer studentischen Literaturzeitschrift veröffentlichte. Schonungslos legte er hier das eigene Krankheitsbild einer Depression offen, fand erste Worte für das unsagbare schwarze Loch der Krankheit – in dem er 2008 dann vollends verschwand, indem er sich bekanntlich in seinem kalifornischen Haus erhängte. Und hatte der Welt vorher noch den grandiosen Roman „Unendlicher Spaß“ beschert.
Heftig, das auf die Bühne zu bringen. Immer mehr löst sich die Bühne auf, scheppern die Requisiten, verschieben sich die Bodenplatten. Unsicherer Grund ist das hier, jederzeit kann alles zusammenbrechen. Dazu schwebt und pulsiert der psychedelische Elektrosound. Musikalisch spiegelt er perfekt, wie es sich anfühlt, außerhalb des Systems zu sein, in medikamentöser Sedierung und Superdistanz – in „einer Art elektronischem Hochspannungstriller“, umgeben von „Geräusch-Pailletten“ – auch die traurige Erinnerung an seine verstorbene Klinikgenossin Mae nur noch ein fernes Geräusch. Zum Schluss sitzt Hohenhövel allein im Lichtkegel vorn an der Bühne und überlegt. Gibt es auf Trillaphon so etwas wie ein normales Leben? Lohnt sich das Leben, wenn man es nur von weit weg betrachtet? Und dann bricht er ab – mitten im Satz. Black. Kein hoffnungsvoller Ausblick. Aber ein intensiver Theaterabend.

© Philipp Foelting
Es ist erst die zweite Arbeit des noch jungen Theaterkollektivs fiege_mletzko. Zusammengefunden haben sie vor einigen Jahren am Theater im Pumpenhaus Münster, in Jugendclubs lernten sie sich kennen. Mareike Fiege, Regisseurin von „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“, studiert zur Zeit noch „Szenische Forschung“ in Bochum. In den Jahren 2016-21 inszenierte sie auch für Cactus Junges Theater. Viktoria Mletzko ist Dramaturgin und Produktionsleiterin des Kollektivs, sie hat u.a. Kulturmanagement studiert und arbeitet auch im Künstlerischen Betriebsbüro des Pumpenhauses. Zusammen taten sie sich eigentlich, um gemeinsam Becketts „Warten auf Godot“ zu inszenieren. Doch es gab Probleme mit den Erben, „vielleicht müssen wir damit noch warten – mindestens bis zum Jahr 2059“, erzählt Viktoria nach der Aufführung vor dem schönen Ziegelbau des Kulturbahnhofs Bochum Langendreer, einem der ältesten soziokulturellen Zentren in NRW. Schöne Ironie. Stattdessen entschieden sie sich zunächst für einen Text des Münsteraner Hörspiel- und Theaterautors Dirk Spelsberg: „Keuschheit und Vernunft“. Spelsberg, der im Jahr 2018 auf einer Vietnam-Reise verstarb, war so etwas wie ein Mentor für die beiden. Dem Theater im Pumpenhaus war er eng verbunden – im Jahr 1985 wurde es mit seinem Stück „Herz der Freiheit“ eröffnet.
Fiege_mletzkos erste gemeinsame Regiearbeit im Jahr 2019 „Keuschheit und Vernunft“ war eine Art Fortsetzung nach mehreren Jahrzehnten: eine historische Geschichte aus der Zeit des Täuferreichs, eine radikalreligiöse Sekte, die um das Jahr 1530 in Münster regierte. Ein Waffenschmied und eine vergewaltigte, schwangere Nonne fliehen gemeinsam aus der Stadt, begleitet von Folter, Krieg und Gewalt. Wie kann Gott das alles zulassen? Diese Frage zieht sich durch den heftigen Text und seine drastische Sprache („Die Letzten sterben wie die Fliegen. Ihre Körper bedeckt mit eiternden Beulen. Sie scheißen Blut…“). Auch die zwei Protagonisten tragen, wie der Student bei Wallace, an sterile Tenniskluft erinnernde Kleidung: Die Grundfrage hat die Jahrhunderte überdauert. Zum Schluss taucht noch der Gott auf oder ein Hochstapler, in Turnschuhen, überheblich lachend, posierend, eitel und machtversessen. „Wir warten auf Themen, die uns anspringen und uns herausfordern, mit Hilfe derer wir etwas herausfinden können für uns, und die zugleich das persönliche Interesse übersteigen“, erzählt Mareike Fiege ein paar Tage später im Zoom-Interview, „aber vielleicht sind wir damals auch mit etwas zu viel Druck und Kraft am Ziel vorbeigeschossen“.
Dinge, die in ihrer zweiten Arbeit „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ auf jeden Fall nicht passiert sind – die sehr viel ruhiger und zentrierter wirkt. Auf den Autor Wallace waren sie durch ein Gastspiel der berühmten Inszenierung „Unendlicher Spaß“ von Thorsten Lensing gestoßen, mit dem Thema Depression im persönlichen Umfeld konfrontiert. „Wir interessieren uns für jede Art von Abgrund“, sagt Mareike, und fügt dennoch schnell hinzu, wie wichtig es ihnen ist zu erforschen, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Themen wie Suizid, Gewalt, Krieg aussehen kann auf der Bühne.
Aber herausfinden wollen die beiden nicht nur Inhaltliches, sondern auch Formales. Daher arbeiten sie jedes Mal mit einem*einer bislang theaterfernen Künstler*in zusammen, wie etwa mit Yasin Wörheide, ehemaliger Meisterschüler an der Kunstakademie Münster, der die Bühnenskulpturen und den extremen Elektosound für „Trillaphon“ geschaffen hat. Bei „Keuschheit und Vernunft“ war es der Fotograf und Videokünstler Jan Philipzen, der seltsam unscharfe (Tier)-Figuren auf die Bühne projizierte.
Die Abgründe, das Uneindeutige, Angstbesetzte hat es dem Regieduo fiege_mletzko angetan. Auch beim nächsten Projekt können sie ihre düsteren Fantasien schweifen lassen – und gleichzeitig ihren gesellschaftlich relevanten Kern erforschen: Die Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe „Der Untergang des Hauses Usher“ wollen sie inszenieren, wieder geht es um ein Gebäude mit einem metaphorischen Riss: die Bodenlosigkeit und Zerbrechlichkeit der Welt, vielleicht kann man sie besonders gut mit Hilfe von Theater erforschen.