Kritik 30.11.2022

Kein Platz in der Geschichte

Gastfrau / Miriam Meißner

Mit Interviews, Liedern, Dokumenten und Umzugskartons erzählt das junge Katharsis-Kollektiv aus Köln in seiner ersten Theaterarbeit „Gastfrau zwischen Heim und Weh“ von den Schicksalen fast vergessener weiblicher Arbeitsmigrantinnen.

„Ich war ein Kofferkind“, sagt Sati Aslan Arikpinar. Sie erzählt, wie sie im Alter von 15 Jahren nach Deutschland kam, hier direkt zehn Kilogramm zunahm, vielleicht aus Heimweh. Wie sie endlich ihre nach Köln gezogenen Eltern wiedersah, die sie bei ihren Großeltern in einem türkischen Dorf gelassen hatten. Wie sie sich durch deutsche Vorbereitungsklassen quälte und hier doch auf gute Lehrer*innen traf, ihr Fachabitur machte und heute im Kölner Gesundheitszentrum für Migrantinnen arbeitet.

Arikpinar ist eine strahlende, selbstsichere und energiegeladene Frau – und wirkt keineswegs „traumatisiert“, wie man es ihr, wie sie erzählt, manches Mal unterstellt hat. Doch obwohl sie in ihrem Vortrag eine positive Geschichte erzählt, ahnt man zwischen den Zeilen, dass ihr Leben nicht immer einfach war. Und freut sich doch: Schließlich werden Stimmen von Zeitzeuginnen aus der zweiten Generation türkischer Arbeitsmigrant*innen viel zu selten gehört. Um das zu ändern, ist auch das Theaterstück „Gastfrau. Zwischen Heim und Weh“ des Katharsis Kollektivs angetreten, das sich im Kölner Künstler Theater direkt anschließt.

Häufig kamen sie alleine, mutig, furchtlos

Die Bühne besteht aus 21 weißen Umzugskartons – denn hier wird eine Geschichte des Unbehaustseins erzählt. Sie lassen sich gut in Zäune, Mauern, Fenster, Tische und Sitzgelegenheiten verwandeln – und dienen nicht zuletzt als Projektionsfläche für die jeweils deutsche oder türkische Übersetzung. Zuerst lesen die Performerinnen Burçin Keskin und Sarah Plattner aus deutschen Schulbüchern vor. Ob alt, ob neu, ob aus den 1990er- oder 2020er-Jahren – stets fehlt hier, bei den wichtigsten Fakten zur deutschen Geschichte, das deutsch-türkische Anwerbeabkommen vom Oktober 1961, das knapp 900.000 Arbeitsmigrant*innen türkischer Abstammung nach Deutschland holte. Und noch deutlicher fehlt in der lückenhaften Erzählung: Rund 700.000 von allen international Angeworbenen zwischen 1960 und 1973 waren Frauen. Häufig kamen sie alleine und mussten sich mutig, furchtlos, meist ohne Sprachkenntnisse im 60er-Jahre-Deutschland ein neues Leben aufbauen.

Gastfrau / Miriam Meißner

Gerade die Perspektive der Frauen ist es, die das katharsis kollektiv beleuchtet  – Katharsis im Sinne von Erkenntnis, Reinigung, einem Kontakt von Publikum und Spielerinnen. Im April 2020 haben Miriam Meißner und Bucin Keskin das Kollektiv gegründet, das sich intersektional feministisch definiert. Beide sind Theatermacherinnen, Schauspielerinnen und Sängerinnen, beide haben einen Abschluss des niederländischen Konservatoriums „Fontys Hogeschool van de Kunsten” in Tilburg, beide hatten dort einen musikalischen Schwerpunkt. Deshalb wird im Stück auch immer wieder gesungen, mit klaren, kräftigen Stimmen, etwa das wunderschöne türkische Volkslied Gülpembe von Barış Manço. Zweistimmig arrangiert haben sie es selbst: „Bei einem morgendlichen Regen/bist du ausgewandert/Wir konnten es nicht fassen.“

„Es gab keine Bücher, keine Bildung, keine Instrumente“

Lange haben Meißner und Keskin recherchiert, Behördendokumente ausgewertet und insgesamt elf Interviews geführt, unter anderem mit ihren eigenen Großmüttern. Sie haben mit Frauen gesprochen, die Fabrikarbeiterinnen wurden, Taxifahrerinnen, Lehrerinnen, Sekretärinnen, Sozialarbeiterinnen – oder sogar Redakteurinnen. Rund 50 Prozent dieser Frauen hatten einen Beruf – nur rund ein Drittel der westdeutschen Frauen arbeiteten zu dieser Zeit.

Oft ähneln sich die Frauenschicksale in der Türkei. Als Mädchen konnten sie kaum zur Schule gehen, wurden noch als Teenager verheiratet, der Alltag war Haus-, Kinder- und Feldarbeit: „Es gab keine Bücher, keine Bildung, keine Instrumente. Es gab nichts zu tun, also haben die Leute geheiratet“, erzählt etwa Sarah Plattner. Und Burçin Keskin ergänzt Interviewpassagen, in denen die Frauen genau dieser Situation entfliehen wollten, ganz allein den Aufbruch nach Deutschland planten, Kinder zurückließen, sich durch die sklavenmarktähnlichen Aufnahmetests tricksten mit einem Urinbecher für alle (denn wer schwanger war, durfte nicht kommen). Latent rassistisch „Fremdarbeiterinnen“ wurden sie zunächst genannt, bis sich der Begriff zum vielleicht freundlicheren „Gastarbeiterinnen“ wandelte.

In der Balance zwischen Schmerz und Aufbruch, Hoffnung und Heimweh

Katharsis Kollektiv (Miriam Meißner)Schön ist, wie sich die Schauspielerinnen in wandelnde Verkehrsschilder verwandeln, typische Handbewegungen machen, während sie aus dem damaligen „Ratgeber für türkische Arbeitnehmer*innen“ zitieren: „Fleißige Leute sind in der Bundesrepublik gut angesehen.“ Grau und regnerisch war es bei der Ankunft, die Nachbar*innen zurückhaltend bis ignorant, und doch gab es Kontakte, oft ging es um das Thema Essen. „Das erste Wort, was ich lernte, war Sonnenschein“, sagt Keskin etwa. Doch dann änderte sich Mitte der 1970er-Jahre die Stimmung, die Kontakte zu Nachbar*innen wurden weniger, die Einwanderinnen nahmen angeblich auf einmal Arbeitsplätze weg.

Zeitungsschlagzeilen aus jener Zeit werden zitiert: Von „Flüchtlingswellen“ ist die Rede, „neuen Invasionen aus der Türkei“, von „Familientrossen in Kampfstärke“. Interview-Ausschnitte erzählen von der in den 1990er-Jahren wachsenden Neonazibewegung in Deutschland.

Und doch endet das Stück am Ende versöhnlich: Die beiden erkennen an, dass die Angst vor dem Fremden überwunden, dass eine andere Geschichte respektiert und gehört werden kann. „Gastfrau zwischen Heim und Weh“ ist eine tief recherchierte, beeindruckende erste Arbeit eines jungen Kölner Theaterkollektivs. Schön, wie hier die Balance zwischen Schmerz und Aufbruch, Hoffnung und Heimweh stets gewahrt bleibt, wie  selbstverständlich hier selten gehörte Stimmen erklingen und mit Hilfe von Theater verschüttete Erinnerungen hervorgeholt werden, die die deutsche Gegenwart noch immer nachhaltig prägen.

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Dorothea Marcus
Dorothea Marcus
ist freiberufliche Kulturjournalistin und Theaterkritikerin u.a. für DLF, WDR, Theater heute und nachtkritik.de. 2016-2019 war sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Sie moderiert Podiumsdiskussionen, gibt Lehrveranstaltungen und ist Mitgründerin von kritik-gestalten.