Klischees korrigieren

Sina Ebell und David Loscher haben ihre Tiny Residency im Atelier für kulturelle Angelegenheiten in Borken-Weseke verbracht, um Schützenvereine im Westmünsterland zu erforschen. Dabei verloren sie manches Vorurteil – und arbeiten jetzt mit dem örtlichen Stadtmuseum FARB zusammen.
Hendrik de Wynen gilt als Held. Als Graf Rainald von Geldern im Sommer 1322 die Burg Bredevoort besetzte und mit seinen Leuten das Münsterland plünderte, rief de Wynen die Schützen in Borken zusammen und gründete eine Art Bürgerwehr. Ein paar Monate später konnten sie 86 Soldaten von Rainald erschlagen. Die blutige Schlacht im Letter Bruch ist heute in einem detaillierten Wikipedia-Artikel verewigt. Soweit die Mythologie. Ob es Hendrik de Wynen wirklich gab, weiß heute niemand, es gibt keine historische Quelle – auch wenn ihm in einem Buch von 1844 sogar noch eine Tochter angedichtet wird, die sich in einen der tapferen Schützen verliebt. Und dennoch: stolz beruft sich der Borkener Schützenverein St. Johanni auf de Wynen – und feiert deshalb 2023 sein 700-jähriges Jubiläum. Grund genug für das städtische Museum von Borken, das FARB, ab August eine große Ausstellung zum Thema Schützenvereine zu planen. Und mehr als Grund genug für die Künstler*innen Sina Ebell und David Loscher vom Kollektiv DIEHAPPYFEW, sich auf Recherche-Aufenthalt nach Borken zu begeben. Das „Kollektiv des Freien Theaters“ hat sich im Jahr 2010 an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe gegründet und besteht eigentlich aus einem Netzwerk von rund 30 Künstler*innen. Einen Namen gemacht haben sie sich durch präzise, liebevolle Erkundungen von lokalen Besonderheiten, meist außerhalb von Theaterräumen. In „After the End // An der Rheinischen Riviera“ feierten sie 2021 etwa ein theatrales Abschiedsfest für die Braunkohle. In „Scheinarbeit“ bauten sie 2020 ein „Theater der Arbeit“ in den Dortmunder Blücherpark – und drehten einen Film darüber. Nach Borken gekommen sind sie auch durch den Künstler Stefan Demming und sein „Atelier für kulturelle Angelegenheiten“. Sie kennen ihn seit August 2021: er hatte „After the End“ gesehen, als sie es auf dem Museumsbahnsteig Oberhausen aufführten und als Gastspiel nach Borken eingeladen.

© St. Johanni Bürgerschützenverein Borken e.V.
Vorurteile über Schützenvereine
18 Schützenvereine gibt es auf dem Gebiet der Mittelstadt Borken, rund 1.100 Mitglieder hat der größte – und das bei rund 43.000 Einwohnern. Man kann wohl sagen, dass Schützenvereine hier tief zum Brauchtum gehören. „Die Tradition erscheint erstmal weit weg von uns“, erzählt Sina Ebell. Sie lebt in Gelsenkirchen, Loscher in Karlsruhe. Auch mir erscheinen Schützenvereine, deren männliche Mitglieder einmal im Jahr auf eine Vogelattrappe schießen, Alkohol trinken und Frauen nicht zum Schießen zulassen, erstmal ziemlich fremd und patriarchal, das sind die Klischees, die ich bislang im Kopf hatte. Dass die Vereine aber eine wichtige integrierende Funktion für die Landbevölkerung haben, war mir so noch nicht bewusst: „Im Laufe der Gespräche wurden wir positiv überrascht, wie offen, fröhlich und gemeinschaftlich die Schütz*innen sich uns gegenüber gezeigt haben“, erzählen sie. Was nach außen vielleicht militärisch und patriarchal daherkommt – Frauen sind in den meisten Vereinen etwa nach wie vor ausgeschlossen vom Schießen des Vogels – sind für eine ländliche Region wie das Westmünsterland vor allem riesige Feste einmal im Jahr, gesellige Zusammenkünfte für mehrere Generationen. Überrascht waren die beiden auch, dass es mittlerweile auch Frauenschützenvereine gibt oder der Schieß-Radius eines Schützen mit seinem befestigten Gewehr äußerst gering ist – „Es erinnert mehr an einen Kirmes-Stand als an eine Militärübung“, sagt Sina Ebell. Während der Recherchen beschäftigten sie sich auch mit der Oper „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber und August Apel. Sie spielt im Jäger-Milieu: der Jagdbursche Max lässt sich, um die angebetete Agathe zu heiraten, zwielichtige „Freikugeln“ andrehen und verkauft damit seine Seele. Zugleich überlegten sie, vielleicht reale Schützen – und Schützinnen – aus Borken auf die Bühne bringen, denn Partizipation ist Ebell und Loscher in ihren künstlerischen Arbeiten wichtig. „Wir sehen in den Schützenvereinen Ähnlichkeit zu Theater: die Kostüme, die Ritualisierung“, sagen sie. Doch am Ende entschieden sie sich gegen eine Theaterproduktion. Einerseits hatten die befragten Schützenvereinsmitglieder gar keine Zeit für sechs Wochen Proben. Und andererseits: „Das Material hat uns einen anderen Weg gezeigt“.
Dokufiktion für die Ohren
Also trafen sie Mitglieder der Schützenvereine auf dem Marktplatz, im Museum und in Lokalen und führten lange Interviews, auch mit dem Borkener Stadtarchivar und Historiker Norbert Fasse. Auch Stefan Demming, der in Borken aufgewachsen ist, konnte ihnen viel von der tiefen Bedeutung der Vereine für die Landbevölkerung erzählen. Einige „Expert*innen“ lernten sie kennen, als das FARB im November 2022 zwei „offene Schützentage“ im Museum veranstaltete, um Objekte zu sammeln. Denise Trump, wissenschaftliche Mitarbeiterin, zeigt sie im Depot, wo sie für die Ausstellung im Sommer vorbereitet werden: Fahnen, Uniformen und Fotoalben, geschossene Vogel-Attrappen, sogar eine kleine Babymütze und -schuhe in den Vereinsfarben, als einst ein Schützenkönig während des Fests Vater wurde. Zu jedem Objekt soll eine persönliche Anekdote in der Ausstellung erzählt werden, auch die Rolle der Vereine in der Nazizeit wird nicht ausgespart, „an diesen Recherchen sitzen wir gerade“, erzählt Denise Trump. Sina Ebell und David Loscher werden ihr Audio-Material nun, ergänzt um eine dramatisierte Fassung des Romans von 1844, die Cyriakus-Feier zu einer Art Hörspiel-Feature machen, eine Art Dokufiktion für die Ohren. Zur Zeit sind sie dabei, finanzielle Förderung zu finden: der Roman soll dramatisiert und um O-Töne aus den Interviews ergänzt werden, auch sollen die Expert*innen für Schützenkultur und auch die Musikkapellen einbezogen werden. „Das Feature könnte dann ein Teil der Ausstellung im FARB werden“, so Sina Ebell.
Arbeiten im Atelier für kulturelle Angelegenheiten
Für Stefan Demming war es sehr passend, die Tiny Residency in seinem Atelier für kulturelle Angelegenheiten (AkA) zu empfangen. Hier, in diesem ehemals leerstehenden Ladenlokal, das früher eine Bäckerei war und nun Ausstellungsraum und manchmal „dritter Ort“ der Begegnung im ländlichen Raum geworden ist, konnten sich Sina und David in den zwei Wochen ihres Aufenthalts zum Arbeiten und Auswerten zurückziehen. Sogar einen Schlafplatz gibt es im AkA. Ohnehin haben Demming und sein Kollege Michael Rieken schon öfter Künstler*innen eingeladen, deren Kunstwerke noch nicht „fertig“ waren: „Ich finde den Prozess oft ebenso wichtig wie das, was dabei herauskommt“, sagt er, „und würde diesen Raum gerne mehr für ähnliche Aufenthalte zur Verfügung stellen: es gibt viel Raum, Licht- und Klangequipment und Ruhe…“. Gerade ist ein schöner Bildband über die fünf Jahre seit der Entstehung erschienen: „Landkultur anders“, Konzerte, Performances, Ausstellungen finden statt, Jessica Segall aus New York stellte Naturstrukturen aus, Silke Thoss aus Berlin einen Tante-Emma-Laden aus Pappmaché-Objekten. Demming arbeitet auch mit Leuten vor Ort zusammen, die gerne vorbeikommen, wenn auch nicht immer in Scharen. Etwa mit dem alten Mann, der während der Pandemie begann, akribisch detailliert mit Buntstift Vögel zu zeichnen und sie an die Schutzhütten der Umgebung zu kleben. Demming und Rieken hängten sie im Schaufenster auf, kreierten eine Installation daraus, mit Vögelzwitschern, kleinen Nestern und Songs vom magischen Vogelstimmen-Musiker Cosmo Sheldrake. Aber manchmal können Arbeiten die Anwohner auch provozieren, wie etwa der Kurzfilm „PIG Brother“ mit fünf lebendigen Schweinen in einem Wohnzimmer, gedreht von Demming, der in Bremen Kunst studiert hat, und seinem Kollegen Harko Wubs. Gerade hier, in einem Stammland der Schweinemast. Aber warum mit Kunst nicht die gefühlten Grenzen überschreiten? Das AkA ist auf jeden Fall ein großartiger Ort dafür.