Kunst am Kaminfeuer

Die Theatermacherinnen Marlene Helling und Laura Zielinski verwandeln ein Familienerbe aus dem 17. Jahrhundert in eine Residenzstätte für Künstler*innen. Unsere Autorin hat sie auf dem ehemaligen Bauernhof in Versmold besucht.
Die Temperaturen an diesem späten Nachmittag sind eisig – genau passend also für das heutige Winterfest, zu dem der Verein Kunsthaus Helleweg e.V. im ostwestfälischen Versmold einlädt. In der Dunkelheit sind die Straßen schwer zu erkennen, die sich ihren Weg vorbei an weiten Feldern und winterlichen Wiesen suchen und schließlich zu einem einsamen Fachwerkkotten führen, der auf einer ebensolchen Wiese steht und mit ein paar weihnachtlichen Lichterketten dekoriert ist. Etwa zwanzig Menschen sind zum Winterfest gekommen, einige von ihnen stehen im Halbkreis um eine Feuerschale, andere wärmen sich ihre Hände an heißem Glühwein, den man an Bierbänken in der Scheune oder auf dem Hof genießen kann. Laura Zielinski kommt aus der Tenne und begrüßt uns freudig. Sie ist eine der beiden Projektleiterinnen des Kunsthaus Helleweg e.V., ihr Kompagnon Marlene Helling führt Besucher*innen gerade durch das Kunsthaus. Marlene hat viel zu erzählen über diesen ehemaligen Bauernhof – schließlich ist er nicht nur geschichtsträchtig, sondern gehört bereits seit Jahrhunderten ihrer Familie: 1692 wurde der Hof erstmals erwähnt und war noch bis 1962 in landwirtschaftlicher Nutzung ehe Marlenes Großeltern die Stallungen in den 70ern zu Wohnräumen umbauten. Seither wurden hier zahlreiche Hochzeiten, Konfirmationen und andere Familienfeste gefeiert bis der Performerin Marlene und ihrem Bruder, dem Jazzmusiker Jakob Helling, die Idee kam, hier einen Residenzort für Künstler*innen zu errichten. Drei Wochen lang im Sommer soll das Haus Helleweg Künstler*innen einen Raum für fokussierte Projektarbeit bieten. Bereits im vergangenen Sommer und auch jetzt waren und sind Theaterschaffende vor Ort, recherchieren, schreiben und lesen – aktuell im Rahmen der Tiny Residency jedoch nur für ein paar Tage. Unter dem Titel „Community of Praxis“ loten Marlene und Laura gemeinsam mit den Künstler*innen darüber hinaus auch Möglichkeiten sowie Herausforderungen künftiger Residenzprogramme aus und entwickeln Ideen und Konzepte für den Ort. Die beiden kennen sich bereits seit dem Bachelorstudium und studieren aktuell den Master „Szenische Forschung“ in Bochum, wo sie auch wohnen. Dass sie sich dem Verein Kunsthaus Helleweg e.V. gemeinsam widmen, ist Resultat langjähriger Zusammenarbeit in der Theaterlandschaft – ob als Performerinnen, Produktionsleiterinnen oder Dramaturginnen.
Obwohl die Familie Helling in Versmold nicht unbekannt ist, macht der Besuch aus der Stadt natürlich auch die Nachbar*innen neugierig, mit denen ich mich am Feuer unterhalte: „Wir kommen von einer Wiese weiter“, erzählt mir eine ältere Dame, die sich über die jungen Künstler*innen vor Ort freut: „So kommt Kunst und Kultur auch zu uns in den letzten Winkel“ scherzt sie. Ein weiterer Nachbar ist selbst Musiker und weiß, wie wichtig die Vernetzung von Künstler*innen ist: „Ein Motto in der Rockmusik ist: You’ll never walk alone. Das gilt für alle Künste: Man muss miteinander kommunizieren, sich verbinden, zusammenarbeiten – alleine macht das doch keinen Spaß.“ Es ist schön zu sehen, dass die Versmolder Community dem Projekt eine solch freudige Neugierde entgegenbringt. Dass das Kunsthaus Helleweg allgemein positiv von der Umgebung aufgenommen werde, erzählen Marlene und Laura mir auch am nächsten Tag, als ich sie zum Gespräch bei Kaffee und Keksen treffe.
Ein Erbe der Begegnungen
Als ich am kommenden Nachmittag auf den Hof zurückkehre, dieses Mal ohne Besucher*innen und kurz vor Sonnenuntergang, fallen mir als erstes die vielen großen Eichen und dann die absolute Stille an diesem Ort auf. Marlene öffnet mir das schwere Holztor zum Eingangsbereich und jetzt kann ich mich auch innerhalb des Fachwerkhauses in Ruhe umsehen. Es ist ziemlich genau so, wie man sich einen umgebauten Hof aus dem 17. Jahrhundert vorstellt: hölzern, urig, gemütlich. In der Mitte der mit Cottofliesen ausgelegten Tenne steht ein Holzesstisch mit Stühlen, darüber ein altes Wagenrad, an dem sechs Lampen befestigt sind, links an der Wand eine hölzerne Egge, die zur Filzhutgarderobe umfunktioniert wurde und über einer massiven Eichentruhe hängt. Die zwei kleinen tannengrünen Türen daneben haben vermutlich früher zu kompakten Ställen geführt; heute findet man hier rosa geflieste Badezimmer. Unter einer verspielten Holztreppe im Landhausstil geht es schließlich ins Wohnzimmer. Hier sitzen Marlene und Laura sowie Theatermacher*in Alex Glanc bei Kerzenlicht, Kaffee, Tee und Keksen gemütlich beisammen an einem langen Tisch mit lindgrüner Tischdecke. Es ist ein bisschen wie bei Oma: ein Kamin brennt, eine Kuckucksuhr hängt an der Wand neben Schwarzweiß-Porträts in goldenen Rahmen, die Samtsessel und Sofas im Hintergrund sehen so aus, als könnten sie ganze Körper verschlucken und der gesamte Raum strahlt trotz seiner Fremdheit eine eigenartige Geborgenheit aus. Hier ist die Zeit stehengeblieben und vielleicht fühlt es sich gerade deshalb so an, als hätte man diesen Raum schon hunderte Male betreten.
Reden, rasten, recherchieren
Doch passt dieses traditionelle Ambiente auch zu progressiver Kunst? Zu experimenteller Arbeit und aktueller Recherche? Alex residiert schon zum zweiten Mal als Künstler*in hier und berichtet von der Arbeitsatmosphäre vor Ort: Bereits bei der Konzeptionierung eines Projektes zum Thema Schlaf im Sommer habe die Umgebung und vor allem die Begegnung mit anderen Künstler*innen die eigene Arbeit befruchtet. Die ruhige Lage biete einen fokussierten Raum für Recherchen und vor allem die täglichen Gespräche mit den anderen Künstler*innen seien inspirierend gewesen. Da Alex unter anderem zu Träumen forschte, tauschten sie auch ihre Träume untereinander aus und setzten zusammen sogar verschiedene Ruhetheorien in die Praxis um. Laura erinnert sich an eine gemeinsame ‚Resting-Praxis‘: „Dadurch, dass Alex im Thema war, ging es viel um Pausen, um strukturiertes Ausruhen im Arbeitszeitraum, was wir dann auch in die Tat umgesetzt haben“, erzählt sie. „Wir haben generell viel über Arbeitsstrukturen geredet“, ergänzt Alex, „die können sehr ausbrennend sein in diesem Trott, in dem wir als Freischaffende ja alle mehr oder minder stecken und von einem Projekt zum nächsten hetzen. Dadurch, dass ich dieses Projekt hier hatte, konnte ich mich allein darauf fokussieren. Wenn ich Zuhause bin, gibt es viel mehr Alltägliches drumherum, was erledigt werden muss und ablenkt.“ Aktuell beschäftigt sich Alex für ein Theaterstück mit dem Thema Scham und hat die Zeit während der Residenz genutzt, um Texte zu lesen, zu schreiben und zu redigieren.
Diesen Tätigkeiten haben sich auch die anderen Künstler*innen der aktuellen Residenz gewidmet, die an diesem Morgen schon abgereist sind. Julia Buchberger, Patrick Kohn und Max Reiniger gehören zu der „Arbeitsgruppe für institutionsästhetische Forschung und Praxis“ und wohnen in Osnabrück und Berlin. Hier in Versmold haben sie durch die Residenz gemeinsam mit Alex einen Ort gefunden, um zusammenzukommen und sich über mehrere Tage auszutauschen.
Die Paarung der Künstler*innen sei dieses Mal noch recht zufällig verlaufen, erklärt Laura. Ein Instagram-Aufruf habe Interessierte aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zusammengebracht. Künftig wollen die beiden Leiterinnen aber Open Calls organisieren: „Wir wollen vor allem Künstler*innen aus den Sparten Musik, Tanz, Performance und Medienkunst ansprechen und es wäre natürlich cool, wenn bei den einzelnen Residenzen auch diese Sparten jeweils abgedeckt würden“, erklärt Marlene. Ein weiterer Parameter für die Auswahl der Künstler*innen sei aber auch das Interesse an Versmold als Ort: „Die kuratierten Projekte müssen sich nicht zwangsläufig mit ökologischer Landwirtschaft auseinandersetzen“, meint Laura, „aber wir schauen schon, dass sich die Leute auch für die Region interessieren, dafür, wo sie hier sind, wie es hier ist und die Frage: „Warum wollen wir genau hier sein?‘“.
Kommunikation statt Kunstklüngel
Dass die Künstler*innen während ihrer Residenz also wirklich mit der Region interagieren und der Kontakt zu Versmolder*innen besteht, sei ihnen besonders wichtig. Marlene erzählt von geplanten Patenschaften: „Durch diese soll eine direkte Verbindung zwischen den Künstler*innen und Anwohner*innen geknüpft werden. Die Pat*innen dienen dann als Ansprechpersonen für die Umgebung und können bei ganz praktischen Dingen helfen, mal zum Supermarkt oder Bankautomaten fahren zum Beispiel oder man verabredet sich und sagt: Wir gehen mal Kaffeetrinken oder du zeigst mir die Bockhorster Dorfkirche oder das Backhaus. Es soll eben nicht so werden: Wir machen hier unseren Kunstklüngel und ihr sollt davon nichts mitkriegen.“ Zu diesem Konzept des Gemeinsamen gehören auch Feste wie das gestrige Winterfest. Während jeder Residenz solle es drei Veranstaltungen geben, eine am Anfang, eine in der Mitte und eine Abschlussausstellung am Ende des Zeitraums in Zusammenarbeit mit dem hiesigen Kunstkreis Versmold. Und vielleicht werden bei künftigen Abschlusspräsentationen nicht nur Artefakte, sondern direkte Einblicke in Performances möglich, denn ein Teil des Kottens soll bald zum Probenraum umgebaut werden. Damit es ein echter Austausch werde, könne man dann zum Beispiel auch Jamsessions mit ortsansässigen Künstler*innen organisieren. „Es soll schließlich nicht heißen: Künstler*innen aus der Stadt chillen drei Wochen hier und fahren dann wieder nach Hause“, betont Laura. Ich erinnere mich an den gestrigen Abend, den Rockmusiker am Lagerfeuer und sein Motto: „You’ll never walk alone“. Mit diesen Absichten könnte das Kunsthaus Helleweg definitiv ein solcher Ort der Zusammenkunft werden.