Unbekanntes Zuhause

Selbsterfahrungstrip, Kopfkino und radikales Experiment mit dem Nichts: Das Künstler*innenduo Hofmann&Lindholm lädt mit dem häuslichen Kammerspiel „Nobody’s There“ zum Versteckspiel ohne Auflösung ein.
Die Grundidee von Hofmann und Lindholms neuestem Projekt hört sich gruselig an: Der Theaterbesuch – kann man ihn überhaupt so nennen? – besteht darin, sich in einer völlig fremden Wohnung zu verstecken. Und zu hören, wie der oder die Bewohnerin hereinkommt und ihren Alltag lebt. Ohne dass wir uns gegenseitig jemals sehen. Es ist ein Erlebnis, von dem ich mir vorher nicht ansatzweise vorstellen kann, wie es sich anfühlt – und das eher einem Selbsterfahrungstrip ähnelt.
Los geht es am Essener Hbf, im April 2022. Allerdings hat das Künstler*innenduo Hofmann&Lindholm „Nobody’s there“ auch schon in Frankfurt und jüngst in Dortmund „inszeniert“. Exportierbar ist es in jede beliebige Stadt, wenn sich genug „Wohnungsgebende“ finden. Nur ein paar Minuten zu Fuß ist es zum temporären Projektbüro in der Essener Innenstadt, wo Hannah mich schon freundlich erwartet. Sie bietet mir Kaffee an, beruhigt mich und gibt mir detaillierte Anweisungen sowie einen Stoffbeutel mit Wecker und Briefumschlag. Er enthält die „Partitur“: sowie ich aus dem Taxi an der unbekannten Adresse aussteige, soll ich ihr eine SMS schreiben und dann die Wegbeschreibung lesen. Der Taxifahrer hat keine Ahnung von „Nobody’s There“ und findet es äußert seltsam, dass ich nicht weiß, an welche Adresse ich fahre. Lieber würde ich aber gar nicht mit ihm sprechen, um mich auf die seltsame Nicht-Begegnung mit einem fremden Menschen vorzubereiten. In der Essener Dämmerung in einem gehobenen Mittelklasse-Stadtteil, viel Grün, Gründerzeithäuser, laufe ich erst einmal am Ziel vorbei. Zum Glück ruft mich jemand aus der Produktion an und geleitet mich auf den richtigen Pfad. In der Treppe zum Hausaufgang ist ein kleiner Tresor versteckt.

© Hannah Hofmann
Mein Herz klopft gewaltig, als ich den Code eingebe und den Haustürschlüssel herausnehme. Die Wohnung ist im 1. Stock, hell und freundlich, eingerichtet in Holz und Beige, voller Bücher, die mich auch interessieren („Digital Detox“). Vor Nervosität vergesse ich, dass ich alle Zeit hätte, mich umzusehen. Ich habe die Wahl zwischen drei Verstecken: ein Tisch mit Tischtuch, das bis zum Boden reicht. Eine Art Kleiderkarton, der im Nebenraum steht. Und ein Paravent neben dem Schrank. Alle drei sind absolut blickdicht. Ich schreibe viel zu hastig die SMS „Bin drin“ – schon wenige Augenblicke später höre ich, wie sich ein Schlüssel in der Haustür dreht. Schnell den Wecker gestellt und unter den Tisch gekrochen. Gewählt habe ich das Versteck, weil es schön mittig im Raum ist, ich so vielleicht am meisten mitbekomme. Aber wovon? Mein Herz klopft hart, ich liege unter dem Tisch, guckt noch ein Fuß raus? Ich muss mich erstmal bequem betten – eng hier. Schon ertönen Schritte.
Ich bin jetzt der „Nobody“, der weder sieht noch gesehen wird. Was mag die Person in der Wohnung von mir denken? Auf jeden Fall ist es eine Frau. Sie ruft ein Tier. Gibt es hier etwa eine Katze? Sie telefoniert kurz, eine Verabredung muss abgesagt werden. Nie werde ich erfahren, mit wem und warum. Geschirr klirrt, Hausarbeit wird verrichtet. Ich kann nichts sehen, bin alleingelassen mit meinem Kopfkino – der Wohnungsbesitzerin wird es nicht anders gehen. Ich fantasiere sie mir als kirchlich engagierte, gebildete alleinstehende Frau von 55 Jahren, die ihr Leben gut eingerichtet hat, ohne Kinder, mit vielen Hobbies, Wandern, Lesen, Musizieren, kurze graue Haare. Aber was weiß ich? Es gibt keine Kontaktaufnahme. Ich bin der Kobold in der Wand, die unsichtbare Beobachterin, ein Phantom. Mein Kopf rattert, weil er die Leerstelle der Wahrnehmung einfach nicht füllen kann. Wir teilen den Raum, bilden eine intim nahe Gemeinschaft und befinden uns doch in größtmöglicher Anonymität. Nichts verbindet uns, außer der Gegenwart und kleinen Geräuschen, wie ihrem Atmen. Weiß sie, wo ich stecke? Kann sie mich ebenfalls hören? Ich muss aufpassen, an nichts dranzustoßen. Die Zeit wird lang, Staub kitzelt meine Nase. Wo ist sie nur gerade? Warum können wir nicht einfach reden? Ich halte es kaum aus, nicht nach draußen zu blicken. Nach 30 Minuten klingelt der Wecker. Ihre Schritte entfernen sich, die Haustür klappt.
Ich komme heraus und sehe mich um. Eine Katze sehe ich nicht. Hat sie mir ein Zeichen hinterlassen? Soll ich ihr einen Zettel schreiben? Ich fühle mich wie unter einer Glasglocke, als ich wieder auf die Straße trete. Gekommen aus einer Parallelwelt, einem Zusammentreffen, das keins war – nur eins mit mir selbst. Eine Art Meditation, eine Innenschau, eine Fantasie-Überdehnung. Ich will auch jetzt nicht, dass der Taxifahrer mit mir spricht, denn ich befinde mich noch in einer anderen Dimension, bin ins Innere gereist, mir fremd geworden.
Über 60 Nicht-Begegnungen dieser Art haben Hofmann & Lindholm bereits veranstaltet, mit Menschen zwischen 18 und 82 Jahren, in Einzimmer-Studios oder großen Lofts – die gewahrte Anonymität ist ihnen dabei das Allerwichtigste. Die Teilnehmer*innen sind danach meist euphorisiert, erzählen sie beim Telefonat einige Wochen später. Manche vergleichen die halbe Stunde mit einer spirituellen Erfahrung, mit einer Art Meditation oder tiefen Bestandsaufnahme des eigenen Lebens: wo will ich hin, wo komme ich her? Wie lebe ich? Und wer ist der andere Mensch, an dem wir normalerweise vorbeilaufen? Das Projekt gibt die Möglichkeit, den eigenen Projektionen, Gehirnmechanismen, Vorannahmen auf die Spur zu kommen. „Nobody’s there“ ist eigentlich nur ein kleines, schlichtes Spiel mit Hilfe vereinbarter Regeln – und führt doch auf erstaunliche Weise in tiefe menschliche Schichten hinein.