Kritik 12.09.2022

Tanz mit den Kräften

Circular Vertigo / Overhead Project
© Alessandro de Matteis

Overhead Projekt aus Köln verbinden zeitgenössischen Tanz und Zirkus. Für diese außergewöhnliche Kombination erhielt die Kompanie die Tabori Auszeichnung 2022 des Fonds Darstellende Künste. In „Circular Vertigo“ wird ein Pauschenpferd zum Tanzpartner – ein Spiel mit Gewicht und Schwerkraft, das unserer Kritikerin den Atem stocken lässt.

Mit langsamen, seichten Schritten betritt Mijin Kim die Bühne, schaut sich vorsichtig um. Der weiße Tanzboden knarrt unter ihren Füßen, hier im dunkelblauen Zirkuszelt des LATIBUL, dem Theater- und Zirkuspädagogischen Zentrum in Köln Riehl. Während die Tänzerin den Raum mit ruhigen, fließenden Bewegungen erkundet, beobachtet sie ihre Bewegungen in der wellenförmigen Wand aus Spiegeln, die den Bühnenhintergrund säumt (Bühnendesign: Charlotte Ducousso). Plötzlich wirft sie ihre Arme mit Bestimmtheit und Schärfe hektisch herum, tritt mit ihren Beinen in die Luft. Sie wirkt wie getrieben, scheint zu kämpfen, aber gegen wen?

Unter lautem, kaltem Knarzen wird eine Kette vom Zeltdach herabgelassen, den Karabiner an ihrem Ende befestigt Mijin Kim an einem großen dunklen Etwas am Bühnenrand. Mit einem metallenen Klicken rastet der Karabiner ein, die Kette hoch oben im Zirkuszelt beginnt erneut zu rattern, zieht das Etwas langsam aber bestimmt in die Mitte der Bühne. Unter einem schwarzen Tuch kommt dabei ein Pauschenpferd zum Vorschein, dieses Turngerät, mit dem hellbraunen Korpus, zwei Griffen daran und den vier Beinen, die sich steif nach außen recken. 160 Zentimeter lang und 100 Kilogramm schwer, erinnert es zunächst an mühsame Stunden im Turnunterricht. Doch diese Bilder sind schnell wie weggefegt, immer weiter nach oben ziehen die Ketten das Pauschenpferd, bis es schwebt. Dabei lässt die Tänzerin es nie aus dem Blick, fixiert es voller Konzentration mit ihren Augen und beobachtet es dann wieder zärtlich und voller Zuneigung. Jetzt, einige Zentimeter über dem Boden schweifend, wirkt das Pferd wider seine Statur schwerelos, fast unscheinbar. Doch sobald Mijin Kim es anschiebt, dreht es seine Kreise in der Luft, wirkt mächtig und unaufhaltsam.

Circular Vertigo / Overhead Project

© Alessandro de Matteis

Unter der Regie des Choreografen und Zirkuskünstlers Tim Behren beginnt ein Spiel mit Gewicht und Schwerkraft, fortwährend bewegen sich die beiden im Kreis. Das Pferd wird dabei zum Tanzpartner – nicht ganz klar, ob Freund oder Rivale, Komplize oder Feind. Immer wieder wandert der Blick der Tänzerin zwischen ihm und dem Publikum hin und her, als suche sie nach einer Antwort auf die Frage, wem sie eher vertrauen kann, dem Pferd oder sich selbst. Wenn sie sich mit ihm in die Lüfte schwingt und sich – die Füße fest verkeilt – freihändig von ihm tragen lässt, sieht das nicht nur federleicht aus, sondern wirkt, als wären die beiden ein untrennbarer Organismus. Als könnten Pferd und Tänzerin nur miteinander überleben. Mijin Kim ist dann auf die Stabilität und den Halt des Pferdes angewiesen, eine Abhängigkeit, die einem den Atem stocken lässt. Angetrieben durch die kräftigen Schübe und Stöße der Tänzerin, fortgeführt durch die natürliche Fliehkraft des Pauschenpferdes, schwingen die beiden sich durch die Lüfte, immer weiter im Kreis, wie ein kreisender Schwindel: „Circular Vertigo“.

 

Circular Vertigo / Overhead Project

© Stephan Glagla

Dabei bleibt es ein ständiges Kräftemessen, das besonders spürbar wird, wenn die Tänzerin sich am Boden unter dem kreisenden Pferd bewegt und ihr das Turngerät qua seiner Flugbahn plötzlich gefährlich nahekommt. Oder sie umgekehrt die Reise des Pferdes abrupt und mit verschmitztem Blick unterbricht, um es wider alle physikalischen Kräfte in eine andere Richtung zu schieben. Dabei verkörpert Mijin Kim scheinbar nebenbei ein Stück Female Empowerment innerhalb der Zirkusgeschichte, in der Frauen ab dem 18. Jahrhundert als gefeierte Reiterinnen aus klassischen Familienrollen ausbrechen konnten.

 

Regen prasselt auf das Zirkuszelt. Durch das kalte Geräusch der Ketten, die leisen, langsamen, dann wieder lauter und schneller werdenden Schritte der Tänzerin und die verzaubernden Soundflächen aus Klavier und Elektro von Komponist Simon Bauer finden wir uns in einer anderen Welt wieder. Eine Welt an der Grenze zwischen zeitgenössischem Zirkus und Tanz, in der andere Gesetzte gelten. In der unsere Raum- und Zeitwahrnehmung mithilfe von Gravitation, Körperkraft und tänzerischer Genauigkeit aus den Angeln gehoben wird. „Circular Vertigo“ ist ein Balanceakt, ein Tanz zwischen ewiger Schwere und verführerischer Leichtigkeit, der schon kurze Zeit später wie ein entfernter Traum erscheint.

Genre

Performance, Tanz

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Elisabeth Luft
Elisabeth Luft
lebt und arbeitet in Köln als freie Autorin, Kultur- und Theaterjournalistin (u.a. WDR, DLF). Sie studierte Germanistik, Medienkulturwissenschaften und Theaterwissenschaft in Köln, Rom und München. Sie leitet Blogredaktionen bei Theaterfestivals und ist in unterschiedlichen Theaterjurys tätig.