Kritik 25.09.2022

Wie viel schlimmer kann es noch werden?

The BIG Picture / Fetter Fisch
© Thomas Mohn

Mit dem Performancekollektiv Fetter Fisch denken wir in „The BIG Picture“ über eine Zukunft zwischen Utopie und Dystopie nach. Im Theater in der Meerwiese zeigten sie ihren inspirierenden „staged talk“ jetzt auch auf Englisch.

The BIG Picture / Fetter Fisch

© Thomas Mohn

„Be prepared for the worst” – seid auf das schlimmste vorbereitet. Worte, die ich eher nicht mit mutigen Menschen, Aktivismus und Weltverändern verbinde. Trotzdem gelingt es den zwei Darstellerinnen Silvia Andringa und Cornelia Kupferschmid in der nur 50-minütigen englischsprachigen Vorstellung von „The BIG Picture“ im Theater in der Meerwiese in Münster, mich mit den verschiedensten Geschichten zu inspirieren.

Gleich zu Beginn erklären Andringa und Kupferschmid ihr Format: wir sehen einen „staged talk“, also einen inszenierten Vortrag sehen.

Die Worte in englischer Sprache, die Interaktion mit dem Publikum sowie das schlichte Bühnenbild mit einem kleinen Tisch und zwei Stühlen, einem Rednerpult und einer kleinen Leinwand vermitteln das Gefühl, in einem Vortrag der amerikanischen TED-Talk Reihe zu sitzen.

Wie wird unsere Zukunft aussehen?

Armut, Krisen, Kriege – die Welt scheint aktuell so zu sein, wie es dystopische Filme uns schon seit langem zeigen. Wie wird unsere Zukunft aussehen? Wie viel schlimmer kann es noch werden? All diese Fragen werden gleich zu Beginn aufgewirbelt. Doch zwischen einem dystopischen Zukunftsszenario mit katastrophalen Weltzuständen und dem Gegenteil, einer Utopie, liegt noch viel mehr. Andringa und Kupferschmid führen das Publikum in das Genre des utopischen Realismus ein – eine ideale Welt, aber im Rahmen des realistischen.

Was früher möglich war, kann auch in der Zukunft sein. Was genau die beiden Darstellerinnen damit meinen, ist zu Beginn noch nicht ganz einleuchtend und bleibt unausgesprochen – bis die Dia-Show beginnt.

Im Laufe der Vorstellung sehen wir ein Foto nach dem anderen – von bekannten Abbildungen wie Martin Luthers Thesen oder Greta Thunbergs Klimastreiks, aber auch von unbekannten Menschen. Zu jedem Bild erzählen Andringa und Kupferschmid eine Geschichte. Die Geschichte von der ersten Frau, die beim Boston Marathon mitlief oder die Geschichte, wie muslimische Frauen auf Sansibar das Schwimmen lernten.

Viele verschiedene Bilder und Geschichten von vielen verschiedenen Menschen. Doch eines haben sie alle gemein: Sie alle haben gehandelt. Gehandelt, um auf Probleme, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen aufmerksam zu machen oder sie gar zu verändern. „In order to change things you need clear actions” – um etwas zu verändern brauchst du klare Handlungen.

Das „BIG picture“ ist das Zusammenspiel aus allen Bildern, aus den vielen kleinen und großen Geschichten, die ein großes Ganzes ergeben. Diese Geschichten schwirren noch lange nach der Vorstellung in meinem Kopf. Veränderungen hat es immer gegeben durch Menschen, die etwas bewegt haben. Warum nicht auch in Zukunft? Auch dystopische Zustände können durchbrochen werden, solange sie nicht ignoriert werden.

Aktivismus kann jede*r, warum nicht gleich sofort? „Why not now?“ („Warum nicht jetzt?“) – diese Aufschrift ziert auch die Pullover, die sich Andringa und Kupferschmid zum Ende hin überziehen. Diese kleine Aufforderung geben sie dem Publikum mit auf den Weg.

The BIG Picture / Fetter Fisch

© Thomas Mohn

Kinder arbeiten mit an den Stücken von „Fetter Fisch“

Das Stück ist ab 13 Jahren. Das Publikum an den drei Vormittagen im September besteht aus Schulklassen und Englischkursen. Am ersten Tag sind die Klassen etwas jünger und lauter. Am zweiten Tag besucht ein Kurs der Oberstufe das Stück. Das Publikum wirkt nun eher ruhig und zurückhaltend. „Die Reaktionen sind immer total unterschiedlich, jüngere Schüler*innen sind bei manchen Bildern auch schockierter“, berichten die Performerinnen im Anschluss an die Vorstellung.

Das Performancekollektiv Fetter Fisch macht bereits seit 2006 Theater für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die Zielgruppe wirkt sich auch auf die Entwicklungen der Produktionen aus. Zu Beginn einer Produktion kooperieren Fetter Fisch mit einer Schule in Münster und arbeiten im Laufe einer Woche mit verschiedenen Klassen zu dem jeweiligen Stückthema. „Erwachsene blicken oft ganz anders auf ein Thema. Es geht darum, dass wir die Perspektiven der Jugendlichen mitnehmen wollen, um ihre verschiedenen Erfahrungen und Hintergründe mitzunehmen“, berichtet Kupferschmid.

Je nach Stückentwicklung kooperieren Fetter Fisch immer wieder auch mit anderen Künstler*innen, wie zum Beispiel mit Silvia Andringa zu „The BIG Picture“. Ungefähr ein Jahr arbeiteten sie an „The BIG Picture“ und feierten bereits 2019 Premiere.

Seitdem wurde die Performance immer wieder an aktuelle Geschehnisse angepasst, wie beispielsweise die Corona-Pandemie, die Black Lives Matter Bewegung oder den Krieg in der Ukraine. „Das ist die Chance der freien Theaterszene, dass wir immer etwas anpassen und verändern können,“ erklärt Andringa. Dadurch würde die Performance immer wieder ein paar Minuten länger werden.

Am 20. September spielten Andringa und Kupferschmid das Stück nun erstmals in englischer Sprache. „Wir haben ‚The Big Picture‘ auch auf Festivals gespielt und da kam irgendwann die Frage auf, ob wir das Stück nicht auf Englisch spielen könnten“, so Kupferschmid. Damit wollen sie zukünftig ihr Spielgebiet über das deutschsprachige Ausland hinaus ausweiten.

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Sabrina Fehring
Sabrina Fehring
studiert Angewandte Sprach-, Literatur-, Kulturwissenschaften und Journalistik in Dortmund. Neben ihrem Studium sammelt sie Erfahrungen im Kulturjournalismus bei kritik-gestalten und den Blogs der Mülheimer Theatertage und RuhrBühnen. Ihre Freizeit verbringt sie als Schauspielerin und Regisseurin beim Theater am Fluss in Schwerte.