Schicht für Schicht

Gabriel Carneiro bietet in seiner aufrüttelnden Performance-Installation „O chão de ninguém – Niemandes Boden“ Bodenschätze zum Anfassen. Unsere Autorin griff bei der Wiederaufnahme im Bochumer Blue Square tief in die Erde.
Minas Gerais ist ein Gebiet im Südosten Brasiliens. Viele tausende Kilometer liegt es von NRW entfernt. Aber es ist eigentlich doch näher an uns, als wir glauben. Seit Jahrhunderten werden dem Boden in Minas Gerais Schätze entnommen. Ab 1690 kamen diese Bodenschätze nach Europa. Das Gold aus Minas Gerais ist heute noch in Kirchen und Denkmälern in Portugal, England und den Niederlanden zu finden. Nicht nur kulturelles Erbe wurde damit der indigenen Bevölkerung aus Minas Gerais gestohlen, sondern auch ihr Leben wurde gefährdet, durch den Bergbau.
Auf der Bühne im Blue Square in Bochum ist eine Installation aufgebaut, die schon eine Stunde vor Vorstellungsbeginn von „O chão de ninguém – Niemandes Boden“ besucht werden kann. Dort hängen Bilder von Minas Gerais, wo der Bergbau immer noch an der Tagesordnung steht; Bilder vom Ruhrgebiet, wo der Bergbau Geschichte ist; und Bilder von möglichen Zukunftsszenarien. Unterhalb der Fotos und den informativen Texten über den Boden von Minas Gerais und dem Ruhrgebiet, zieht sich ein langer Streifen mit Erde. In dieser Erde liegen Zettel, die einen auffordern, die Erde zu fühlen und etwas zu verändern. Ich drücke einen Handabdruck in die Erde. Sie fühlt sich weich und staubig an. Am Eingang wurde allen empfohlen, Maske zu tragen. Nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen des Staubs.
Bergbau-Geschichten

© Christian Herrmann
Hinter der ebenerdigen Bühnenfläche läuft ein Video ab. Erde wird gegraben und in einem Eimer durch Bochum getragen. Vom Bergbau Museum mit der U-Bahn weiter bis zum Blue Square. Das Publikum sieht im Video die Erde, die an diesem Abend auf der Bühne liegt. Sie ist sozusagen ausgeliehen, nach der letzten Vorstellung kommt sie wieder zurück in die Natur. Das Video wird untermalt von Sound, der nach Graben und rollender Erde klingt.
Dann beginnt die Performance von Regisseur und Performer Gabriel Carneiro. Mal liegt er wie eine Leiche am Boden, in einem imaginierten Totenraum; mal gräbt er in dem Haufen Erde, der auf der Bühne liegt. Das Publikum konnte selbst Gläser mit Erde mitbringen. Carneiro schaut sich jedes Glas an, liest die notierte Herkunft der Erde und leert die Inhalte schließlich auf dem Erdhaufen. So wird auch das Publikum Teil der Performance und verändert etwas, fügt Erdschichten hinzu.
Text, Sound und Bewegung untermalen die eindrückliche Performance. Die Requisiten und wenigen Bühnenelemente werden Teil der Choreografie. Zum Beispiel die trapezartigen Glaswände, durch die Carneiro mal klettert oder die er mal mit Erde bewirft. Die Geschichten des Bergbaus in Minas Gerais und des Ruhrgebiets werden miteinander verwoben. Die Macht und die Wichtigkeit des Bodens und seiner Schichten werden dabei schnell deutlich.
„Der Boden muss ganz sein, sonst hat er Fieber“
Carneiro erklärt, wie wichtig die verschiedenen Schichten des Bodens sind. Sie sind die Organe des Bodens. Sobald eine Schicht entnommen wird, muss der Boden sich rekonstruieren. Bergbau wirkt auf den Boden ein und beschleunigt ihn. „Boden ist langsam. Der Bergbau öffnet die Schichten so plötzlich und aggressiv. Durch Beschleunigung wird Boden brüchig und zieht uns mit sich.“
Die Bergarbeit wirkt sich auch auf die Arbeiter nachhaltig aus. Und sie hat viele Leben gekostet. „Die Menschen, die nah am Boden arbeiten, sind arm, sterben arm durch Staub, Dreck und harte Arbeit und plötzliche Bewegung des Bodens.“

© Christian Herrmann
Der Bergbau in Brasilien läuft weiter und gefährdet Natur, Tiere und Menschen. Im Ruhrgebiet ist der Bergbau beendet und doch hat er noch Folgen. „Die Arbeiter leben ja noch, die Geschichte lebt immer noch im Körper der Menschen,“ erklärt Choreographin und Dramaturgieassistentin Pauli Nafer nach der Perfomance. Carneiro ergänzt, dass die Löcher und Gifte weiterhin da sind.
Nach der Performance lohnt es sich, mit neu gewonnenem Verständnis für den Boden und seine Schichten noch einmal die Installation anzuschauen. Im Zukunftsszenario wird erklärt, wie der Bergbau den Boden des Ruhrgebiets beeinflusst hat. Aber auch, was passieren könnte, wenn die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen plötzlich nicht mehr ausreichen.
Beeindruckend und gleichermaßen bedrückend zeigt Carneiros Performance, wie Kolonialverbrechen und menschengemachte Veränderungen sich auf das Ökosystem auswirken und welche Konsequenzen sie mit sich ziehen und weiterhin ziehen werden.
Gabe und Last
2019 kam Carneiro aus Brasilien nach Deutschland für den Masterstudiengang der Szenischen Forschung in Bochum. In seiner Arbeit fragt er sich, was er den Menschen hier erzählen kann und wie er hier gelesen wird. „Ein Migrant hat die Gabe und die Last von zwei Orten. Ich bin nicht hier, um dort zu vertreten. Ich bin hier, um zu spiegeln, reflektieren.“ Die Reflektion zweier Orte und deren Bezug zueinander ist ihm mit „Niemandes Boden“ gelungen.
Für seine zukünftige Arbeit hofft er, im Blue Square weiterhin Performances zeigen zu können und mit dem Studiengang der Szenischen Forschung zu kooperieren, auch wenn er schon Absolvent ist. Ein weiterer Wunsch von ihm ist es, die Performance und Installation zu „Niemandes Boden“ vielleicht sogar irgendwann im Bergbau Museum in Bochum zu zeigen.