Portrait, Tiny Residencies 31.12.2022

Shakespeare zwischen Feminismus und Kühen

FAUL&HÄSSLICH.
© FAUL&HÄSSLICH.

Das aktivistisch-feministische Theaterkollektiv „Faul&Hässlich“ hinterfragt mit dem Workshop „Rewriting Herstory“ gender roles in klassischen Dramen: Welchen Einfluss hat diese Sprache auf das Sein oder Nichtsein weiblicher Geschichtsschreibung? Am „Science College Overbach“ tun sie das an einem Ort, der ebenso mit einer männlich dominierten Geschichte zu kämpfen hat.

Mit jedem Umstieg wird die Umgebung ländlicher und die Sitzgelegenheiten im Zug ungemütlicher. Urbane Strukturen verlieren sich im Vorbeirauschen hinter der Glasscheibe in einem grünen Meer, wo lediglich einzelne Kirchtürme noch Fixpunkte bilden. Zwischenstopp im Nirgendwo. Busse fahren nicht an den Zielort Jülich-Barmen. Es scheint kaum noch dörflicher werden zu können bis plötzlich die Plätze mit einer Sitzheizung ausgestattet sind. Das Ruftaxi hält vor einem Gelände, das an einen Bauernhof erinnert. Es wäre nicht verwunderlich, würde nun aus dem Nichts eine Kutsche zur Weiterfahrt bereitstehen. Mein städtischer Zynismus wird den ganzen Aufenthalt vereinzelt durchdringen, weil er mit der Unberührtheit des schönen Flecks überfordert ist. Ausgestiegen erwartet einen erst einmal Stille, reine Luft und weidende Kühe. Verweist alles auf eine Reise in die Vergangenheit, spitzelt hinter dem Torbogen des alten Hofs ein moderner Gebäudekomplex hervor. Das Tor in die Zukunft provoziert die Frage: Was für eine Historie hat dieser Ort? Plötzlich ertönt eine Trillerpfeife, woraufhin sich zweiundzwanzig Männer auf dem gegenüberliegenden Fußballplatz bewegen. Der schrille Pfiff scheint alle zeitlichen Ebenen zu durchdringen und formuliert die Frage um: Welche HERSTORY hat dieser Ort?

An das einstige Kloster der Ordensgemeinschaft „Die Oblaten des heiligen Franz von Sales“ ist schon seit dreißig Jahren ein katholisches Gymnasium angebunden. Durch eine Straße getrennt, aber wegen des gleichen Trägers verbunden, wurde vor ungefähr zehn Jahren der Campus durch das „Science College Overbach“ als außerschulischer Lernort erweitert. Der gemeinnützige Tagungsort für Kinder und Jugendliche bot bisher vor allem Forschungskurse in Naturwissenschaften an. Mit dem Leitungswechsel 2021 erkennt Philipp Mülheims die Chance den Ort auch für interdisziplinäre Angebote zu öffnen. Laborräume verwandeln sich etwa temporär in Konzertsäle, das Foyer wird zur Kunstgalerie und so fungieren die Räume als Austauschplattform zwischen Kunst und Wissenschaft. In diesem Fall wird mit der Einladung eines feministischen Theaterkollektivs eine spannende Reibungsfläche produziert, worin Mülheim ein gewisses Potential wittert: „Schlussendlich beschäftigt sich der Workshop mit der Thematik, die wir an unserem Standort auch stärken wollen: die Rolle der Frau.“

Reclam-Heftchen vs. Feministische Literatur

Die Eingangstür zum Foyer ist offen, aus irgendeinem Raum hallt Musik, der Geruch von Kaffee weist den Weg. Obwohl vorher schon klar sein durfte, dass es sich um keinen üblichen Theaterraum handelt, stellt sich trotzdem ein kurzer Moment der Verwirrung ein. Die Konstruktion von sechs weißen Tischen zu einem Whiteboard ausgerichtet, erinnern an die seltsame Vorstellung von Disziplin während der Schulzeit. Mit einer boshaften Unschuld posieren grellgelbe Reclam-Heftchen verteilt auf den Tischen. Die niedrigen Decken erdrücken den letzten Funken Hoffnung auf persönliche Entfaltung. Drei Köpfe tauchen jeweils hinter ihrem Laptop auf. Neben ihnen liegt feministische und theaterkritische Literatur. Plötzlich bekommt der kühle Raum eine einladende Atmosphäre. Für mehrere Tage ist dieser Seminarraum der künstlerische Schaffensort von „Faul&Hässlich“, bestehend aus der Schauspielerin Laura Götz, der Theatermacherin Clara Kaltenbacher und der interdisziplinären Künstler*in Maren Kraus.

Vermutlich ist es nicht nur mein Gesichtsausdruck, der die Frage provoziert, die sich das Kollektiv selbst stellt: „Wie passen wir als Künstler*innen an solch einen Ort?“ Vergangene Projekte zeigen, dass sie schon in vielen ungewöhnlichen Umgebungen gearbeitet haben. Aufgrund ihrer Themen entscheiden sie sich bewusst für Orte, die schon eine gewisse Geschichte mitbringen, sodass die Räume in ihre Inszenierungen eingebunden werden oder „sogar selbst aktiv mitspielen“, wie Kaltenbacher versichert. Ihr erstes Stück „SCHICHTARBEIT“ fand beispielsweise in einer ehemaligen Zeche statt. Jede einzelne Kachel kann wohl die Unterdrückung der Frau während der kapitalistischen Industriekultur des Ruhrpotts bezeugen. Mit dieser Performance solidarisieren sie sich mit weiblich gelesenen Personen, deren Geschichten früher nicht hörbar wurden. Unzufrieden innerhalb patriarchaler sowie hierarchischer Arbeitsstrukturen an städtischen Theaterhäusern, mussten sie feststellen, dass so eine Institution feministische Energie nur schwer verträgt. Gerade die Reproduktion von bisherigen Arbeitsstrukturen sowie Narrativen auf der Bühne, welche sie an den meisten Theatern nicht kritisch genug hinterfragt empfinden, soll in den Stücken von „Faul&Hässlich“ verhindert werden.

Schüler*innen einen feministischen Zugang zu klassischen Dramen ermöglichen

Auf den ersten Blick scheint es paradox, dass sie sich während ihres Workshops „Rewriting Herstory“ nun ausgerechnet mit der Betrachtung stereotypischer „Frauenrollen“ – beispielsweise als Liebende, Unterstützende oder Sterbende – in klassischen Dramen auseinandersetzen. Doch will sich das Kollektiv gerade durch die produktive Auseinandersetzung den gängigen Narrativen widersetzen. So besteht die Möglichkeit, die Sichtweise gegenüber den kritischen Inhalten auf radikale Weise zu verändern, anstatt die männlichen Schriftsteller weiterhin als künstlerische Genies im Schulunterricht zu romantisieren. Die Idee ergab sich aus der Einladung des Shakespeare Festival Neuss, sich kritisch mit dessen Stücken auseinanderzusetzen. Getreu der Definition von Her-story als Gegenbegriff zur His-story ist es das Anliegen zu zeigen, dass jahrhundertelang unsichtbar gemachte weibliche Geschichte sichtbar gemacht und selbst erzählt werden muss.

Mit dem Workshop ermöglichen sie nun an zwei Tagen einen Experimentierraum für Jugendliche ab vierzehn Jahren, um sich auf eine kritische Weise mit den drei Werken „Hamlet“, „Der Widerspenstigen Zähmung“ und „Was ihr wollt“ von William Shakespeare zu beschäftigen. Mit dem Wissen, dass die Schule als Institution doch mehr auf hierarchischen Strukturen aufbaut als erhofft, wollen sie den Schüler*innen einen sicheren Raum bieten, um einen anderen Zugang zu den Texten zu ermöglichen. Einem körperlichen Warm-up soll eine kleine theoretische Einführung folgen, die Einblicke in die Entstehung der Werke gibt und die ausgewählten Szenen in den Kontext der Handlung bringt. Bevor dann der Experimentierraum geöffnet wird, um die eigene Kreativität der Schüler*innen anzuregen, inszeniert „Faul&Hässlich“ die Szenen selbst und gibt vor wer aus der Gruppe welche Rolle übernimmt und wie sie die Figur verkörpern sollen; nehmen dabei eine „klassische“ Besetzung und Rollenverteilung vor. Wieder stellt sich die Frage danach, warum sie die Arbeitsweisen reproduzieren, die sie selbst als Unterdrückung wahrnehmen? Kaltenbacher hat eine klare Antwort darauf: „Wir erhoffen uns, dass sie die problematische Situation erkennen. Tatsächlich hoffen wir auf eine Verweigerung der Aufgabe.“ Es geht ihnen eben auch darum die elitären Strukturen des Theaters erfahrbar zu machen und diese zu kritisieren.

Im nächsten Schritt sollen die Teilnehmer*innen selbst die ausgewählten Szenen inszenieren.  Doch welche Erfahrungen haben die Jugendlichen denn überhaupt mit Theater? Welche Inszenierungsstrategien gibt es? Welche Möglichkeiten ergeben sich bei der Besetzung der Rollen? Durch den Raum wird ein roter Faden gespannt, an dem Material angebracht ist, das den Schüler*innen Anregungen gibt. Dort finden sie Bilder von unterschiedlichen Aufführungen oder Texte, welche beispielsweise zeigen, wie Stücke neu interpretiert werden können oder die Methode des Crossdressings erklären. Denn es gibt aus dem Fundus einer ortsansässigen Amateurtheatergruppe auch normative Kleidung wie Anzug und Kleid, welche sich die Personen zur Darstellung überziehen können. Doch gerade dem Umgang mit dem Text liegt ein Lernpotential zugrunde. Die ausgewählten Stücke gehören nach wie vor zum Kanon des Lehrplans als auch zum Spielplan von Theatern. „Faul&Hässlich“ erkennt die Gefahr der Literatur als Ideologie vermarktet zu werden und fragt deswegen danach, wie diese Sprache durch die ständige Wiederholung auch heute noch das gesellschaftliche Sein definiert.

Zwischen Shakespeare und Sexismus

Wir sitzen jeweils zu zweit vor einem Laptop, teilen die Rollen untereinander auf und lesen die einzelnen Szenen. Immer wieder müssen wir lachen, vermutlich auch wegen des inbrünstigen Vortrags der Sätze, aber vor allem als überfordernde Reaktion auf die Worte, die als Waffe funktionieren. Der vorhin erwähnte Zynismus hilft an dieser Stelle auch nicht mehr. Diese Texte sind schlichtweg hochgradig sexistisch. In einer Szene aus „Was ihr wollt“ (2.Akt/5.Szene) beschreibt der Herzog die Charakterisierung einer jeden Frau: „Denn Weiber sind wie Rosen; in der nemlichen Stunde, da ihre schöne Blume sich völlig entfaltet, fällt sie ab.“ Frauen werden zur Allegorie der Schönheit und sind nach den Worten Shakespeare nichts mehr wert, sobald sie dem Ideal nicht mehr entsprechen. Noch präziser wird die Objektifizierung der Frau in einer Szene aus „Der Widerspenstigen Zähmung“ deutlich, wenn Petruccio eine Frau mit den Worten, „Wollt ihr oder nicht, ihr werdet mein“, zu seinem eigenen Besitz erklärt. Es zeigt sich die Unmündigkeit der Frau, die in der Rolle Ophelia in „Hamlet“ ihren Höhepunkt findet. Im Gegensatz zu der männlichen Hauptrolle, die 11.000 Wörter sprechen darf, sind es bei Ophelia gerade einmal 1.000. Ich frage mich, ob mir im Unterricht diese drastischen Unterschiede nie aufgefallen sind und ob die Lehrperson nicht darauf aufmerksam gemacht hat? Innerhalb unseres Gesprächs wird spürbar, dass sich der Workshop wunderbar eignen würde, um Lehrpersonal an ihre Verantwortung mit dem Umgang dieses Unterrichtsmaterials zu erinnern.

Durch ihren Workshop sollen die Teilnehmer*innen zu Multiplikator*innen werden, um die erfahrenen feministischen Perspektiven in ihrem Umfeld umzusetzen. Es geht nicht mehr länger lediglich um das Prinzip der Gleichbehandlung von Geschlechtern, sondern auch darum zu zeigen, dass es gefährlich sein kann, wenn ein großer Teil der Menschheit aus Geschichte(n) ausgeklammert wird.

 

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Thaddäus Maria Jungmann
Thaddäus Maria Jungmann
studierte Szenische Künste in Hildesheim sowie Musical in Osnabrück. Thaddäus lebt als freiberufliche*r Performer*in in Köln, wo Thaddäus sich momentan im Masterstudiengang Angewandte Tanzwissenschaft befindet. Neben kritik-gestalten schreibt Thaddäus für die Onlineplattform Tanznetz.