Kritik 30.09.2022

Jenseits der Autobahn

SONIC HIGHWAY / MFK Bochum
© Constantin Leonhard

Das Ruhrgebiet ist das lauteste Ballungsgebiet der Bundesrepublik. Mit „Sonic Highway“ lädt die Gruppe „MFK Bochum“, die sich im Studiengang Szenische Forschung zusammenfand, zu einer Ortsbegehung an der A40 ein. Für unsere Autorin Milica Devic eine bittersüße Erfahrung.

Treffpunkt ist das Dortmunder Theater im Depot. Man wartet auf einen Shuttlebus und es fühlt sich an, als würde man auf Klassenfahrt fahren. An Bord heißen die Künstler*innen von Depot und MFK Bochum die Teilnehmer*innen mit Obst, Müsliriegeln und Wasser willkommen. Ob die Performance hier schon beginnt? Ganz klar ist das nicht, aber die Erzählungen von Franziska Schneeberger über ihre persönlichen Verbindungen zum Autofahren und der Strecke sowie ihre Erinnerungen an Fahrübungen und lange Staus erhellen die Atmosphäre auf dieser regnerischen Fahrt. Im Hintergrund läuft „Highway to Hell“ und begleitet uns kraftvoll über die A40. Sie erzählt: „Ich liebe das einfach. Ich mache das Fenster runter und drehe meine Lieblingsmusik richtig auf. Der Lärm der Straße stört mich dann nicht mehr, weil ich selber die Lärmquelle bin, wenn ich hier über die Straße rausche mit meiner Musik, die aus dem Fenster dröhnt.“ Ihre eigenen Geschichten ergänzt Schneeberger durch lustige Beschreibungen der Orte, die wir durch die Fenster sehen: Die der „modernen” Aral Tankstelle mit ihrer „reizenden Toilette”, oder der Hochzeitskapelle im Revierpark, „die ist wunderschön, allerdings relativ laut für so einen Anlass“. Tankstellen, Clubs und Fleischerei verraten mehr über die Geschichte und das Leben in Bochum. Es sind Orte, die man normalerweise nicht wahrnimmt, weil sie sich neben der Autobahn befinden und während der Fahrt vorbeirasen, und die jetzt eine Bedeutung bekommen.

SONIC HIGHWAY / MFK Bochum

© Constantin Leonhard

Poetische Mischung aus Müll, Blumen und Celine Dion

Angekommen in Bochum, gibt es Ohrstöpsel und Regenponchos für alle. Zwischen den Bäumen und Büschen am Wegesrand kriecht langsam ein „Busch-Monster“ (Katarína Marková) im braun-grünen Tarnanzug hervor. Bei sich trägt es einen Einkaufstrolley und ein Autokennzeichen auf dem „MFK Bochum“ geschrieben steht. Neugierig folgen wir dem Monster über grüne, nasse Schleichwege, auf denen überall Müll herumliegt, bis wir am Autobahnkreuz Bochum West ankommen. Der Lärm der Autos lässt den Körper erzittern, man folgt der Straße und fühlt sich dabei klein und machtlos. Plötzlich sind Kuhglocken zu hören und der zweite Hinweis ist zu sehen: Marlene Ruther bewegt sich, in Neonmagenta gekleidet, über einen Hügel auf der anderen Seite der Autobahn und läutet die Glocken.

Katarína Marková bringt uns zu einer nicht ausgeschilderten Aussichtsplattform. Durch eine Musikbox erzählt Marlene Ruther, dass die Aussichtsplattform fast 60.000 Euro gekostet habe. Gleich drängt sich mir die Frage auf, ob das wirklich nötig gewesen sei, denn außer der Autobahn ist von hier oben nicht viel zu sehen. Nur ein paar Blumen, Goldruten, Brennesselsträucher, Sanddorn und Margariten, manche von ihnen wurden eingepflanzt, andere haben sich hier gegen alle Widerstände  selbst ausgebreitet. Die Performerin holt ihre Flöte heraus und spielt Celine Dions Ballade “My Heart will go on”. So entsteht ein Moment des zärtlichen Austauschs, denn kurz darauf folgen ihr die Stimmen der Teilnehmer*innen und gemeinsam singen sie im Regen.

Um den letzten Teil der Performance zu sehen, klettern wir auf einen schlammigen Hügel hinauf, dafür nutzen wir ein Seil, um nicht auszurutschen. Oben angekommen, erreichen wir einen kleinen weißen Pavillon aus Kunstoff, wo die Künstler*innen sich für das Konzert vorbereiten. Eine Instrumentalversion von Rick Astleys 80er-Jahre-Hit „Together forever“ läuft im Hintergrund, während das Kollektiv Synthesizer und Flöte auspackt. Unter einem zweiten weißen Pavillon können auch wir uns gut vor dem Regen schützen. Dissonante Melodien werden eins mit dem Autolärm, die Musik katapultiert uns in andere Welten, denn die Kombination von Ort und Konzert scheint widersprüchlich undverleiht der Umgebung eine ganz neue Atmosphäre.

 

„Mein Auto, meine Freiheit!”

„Ich beherrsche mein Auto, ich bin frei! Mein Auto, ich werde dich polieren, waschen, lackieren. Ich lasse meine Gefühle ganz frei, ich fließe, ich gebe Gas. Mein Auto ist meine Freiheit!” Mit diesen Worten vergleicht Katarina Marková das Auto mit einem männlichen Glied, während sie auf dem regennassen Hügel liegt und von dort die Autos beobachtet. Symbole für Kapitalismus und Patriarchat, mit denen sie die Gesellschaft kritisiert, die sich vom Materialismus hinreißen lässt. Sowohl unsere Körper als auch die Autos sind hier politisch und ergänzen sich darin. Der Autokult ist in unserem Leben tief verwurzelt und kaum mehr wegzudenken. Aber wie würde die Landschaft ohne Autobahnen aussehen? Was würde mit den ehemaligen Schnellstraßen geschehen, wenn sie plötzlich nicht mehr genutzt würden? Denn auch wenn Autofahren meist praktisch erscheint, sind die dadurch verursachte Luftverschmutzung und der Lärm nicht kleinzureden.

Bittersüße Gedanken am Ende dieser Performance. Der Spaziergang ist augenöffnend. Er verleiht Orten Bedeutung, die sonst für selbstverständlich gehalten und nur aus dem Autofenster wahrgenommen werden. So entstehen Fragen nach der Verbindung von Landschaft und Industrie. Man steht auf einem Hügel, zertritt aus Versehen ein paar kleine Blumen und realisiert, dass man in einer Zeit lebt, die gleichzeitig schrecklich und faszinierend ist. Schrecklich, weil die Menschen die Macht haben, vieles Natürliche in kurzer Zeit zu zerstören und damit die Zukunft unseres Planeten zu gefährden. Faszinierend, weil die Zukunft des Planeten noch nie zuvor so sehr in unseren Händen lag. Was morgen geschehen wird, hängt weitgehend davon ab, was die menschliche Gemeinschaft heute tut oder nicht tut. „Sonic Highway“ zeigt, dass die Begrenzung des Autoverkehrs ein wichtiger Ansatz sein kann, der uns wieder mit der Umwelt verbinden kann. Und dass es notwendig ist, den Einsatz und die Herstellung von Autos zu reduzieren, um das Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch wiederherzustellen.

Genre

Performance

Kommentare

Milica Devic
Milica Devic
lebt seit 2016 in Deutschland und studiert Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaften, Geschichte und Kulturanthropologie des Textilen in Dortmund. Neben Tätigkeiten beim Dortmunder U oder dem Theater an der Ruhr schreibt sie für kritik-gestalten.