Spiel ohne Grenzen

André Lehnert und Paula Scherf gründeten „disdance project“ 2003 in Köln. Seitdem realisieren sie Bühnenstücke und soziokulturelle Projekte zwischen Tanz, Theater, Video und Bildender Kunst. Im nächsten Jahr feiern die beiden Wahlkölner*innen bereits ihr zwanzigjähriges Bühnenjubiläum.
Mit ihrer Arbeit Grenzen zu überschreiten ist für André Lehnert und Paula Scherf Anspruch und Programm gleichermaßen. Der in Wriezen geborene und in Potsdam aufgewachsene André Lehnert ist nicht nur ausgebildeter Schauspieler, sondern befasst sich auch schon seit 30 Jahren mit Programmierung. Mit „disdance projekt“ erweiterte er sein Betätigungsfeld um Grafik, Design und Videokunst. Besonders der Schwerpunkt Videokunst ist aus seinem Schaffen nicht mehr wegzudenken. Lehnert versteht die Einbindung von Video in seine Inszenierungen als Arbeit mit einem weiteren Bühnenakteur, der dem Geschehen auf der Bühne zusätzliche Dynamik und Impulse verleiht. Paula Scherf, geboren und aufgewachsen in Berlin, bringt als Diplom–Bühnentänzerin und Choreografin weitere interdisziplinäre Impulse in die gemeinsame Arbeit ein. Das Duo, das mittlerweile in Köln-Ehrenfeld eine eigene Produktionsstätte betreibt, arbeitet darüber hinaus projektweise mit weiteren Künstler*innen aus den unterschiedlichsten Sparten zusammen. Das verschafft „disdance projekt“ eine ungemein große Bandbreite an darstellerischen und konzeptionellen Möglichkeiten, die sich in ihren Projekten widerspiegeln.
Wie etwa in „Herakles“, einer theatralen Video-Installation, die „disdance project“ 2020 während der ersten Corona-Phase mit dem renommierten Theatermacher Hansgünther Heyme umsetzten. Der Klassiker des griechisch-antiken Dramatikers Euripides bekommt hier mittels einer aufwändigen Videoinstallation ein zeitgemäßes Gewand. Auf gleich neun Bildschirmen, die pyramidenförmig platziert werden, spielt sich das Geschehen ab. Sinnbild für eine strenge gesellschaftliche Hierarchie, die sich auch im Stück widerspiegelt. Unten agiert auf fünf Bildschirmen der Chor, darüber sind auf dreien die königlichen Protagonisten zu sehen, während über ihnen, auf dem letzten Bildschirm die Götter ins Geschehen eingreifen. Auf den Bildschirmen, die einem Altar gleichen, verfolgen die Zuschauenden das Geschehen. Herakles, der nach Theben eilt, um seine Familie zu retten, wird von seiner Intimfeindin Hera mit Wahnsinn geschlagen. Er wird zum Mörder an den Seinen, die er im Wahn für Feinde hält. „Dass Herakles seine Familie retten will und sie dann doch gegen seinen Willen tötet, ist die brutale Sequenz des Stückes, die sich auch auf die Corona-Zeit übertragen lässt.“, erklärt André Lehnert. „Was passiert, wenn ich die Gesellschaft vor dem Virus schützen will, Leben retten möchte und gleichzeitig Kollateralschäden hervorrufe, deren Auswirkungen noch nicht gänzlich zu überschauen sind. Das ist das Dilemma, mit dem wir uns hier auseinandersetzen.“
Die einzelnen Rollen der Schauspieler*innen, zu denen sich neben den drei Initiator*innen des Stückes noch Thomas Hupfer gesellt, wurden einzeln mit der Kamera aufgenommen. Die fertigen Filme, insgesamt fünf Versionen, fügen sich in der Installation zu einem flüssigen Gesamtkonzept zusammen. Aus dem Euripides wird so eine Auseinandersetzung mit einer ethischen Grundsatzfrage menschlichen Handelns, die weit über das Thema Corona hinausführt. Wie bei all ihren Projekten ist „distance project“ auch bei „Herakles“ wichtig, ein junges Publikum einzubinden, wie sie in einem Grundsatzstatement auf ihrer Website erklären: „Wir wehren uns vehement gegen Ansichten und Taten, die Darstellende Kunst für junges Publikum an den Rand drängen und als Nebenschauplatz des „eigentlichen” professionellen Betriebes sehen. Die strikte Trennung von „Bildung und Kunst“, wie sie in der Förderpolitik zuweilen vertreten wird, leuchtet uns nicht ein. Auch lassen wir uns konsequent nicht entweder der Kinder- oder der Erwachsenensparte, bzw. dem Tanz oder dem Theater eindeutig zuordnen – wie oft von Strukturen und Strukturierenden gewünscht.“ So können Schüler*innen nach besuchten Vorstellungen in Werkstattgesprächen einzelne Szenen noch einmal ansehen und dabei konkrete Fragen zum Inhalt oder der Machart des Gesehenen sofort einbringen. Die Installation kann hier im Miteinander zwischen Zuschauenden und Künstler*innen beliebig gestoppt, oder zurückgespult werden, um den größtmöglichen Zugang zu der Materie zu gewährleisten.
Schon 2013, zwei Jahre vor der großen Fluchtbewegung, konzipierten Lehnert und Scherf das Stück „Als mein Vater ein Busch wurde und ich meine Heimat verlor“. Die Inszenierung verbindet Tanz, Schauspiel, Hörspiel, Musik, und Film. Erzählt wird die fiktive Geschichte des Mädchens Toda, das seine Heimat im Krieg verlassen muss und in der Fremde mit Identitätsverlust, bürokratischer Willkür und Ausländer*innenhass konfrontiert wird. Das Publikum des für alle Altersklassen konzipierten Stückes erlebt exemplarisch die Probleme und Gedanken eines geflüchteten Kindes und ist so in der Lage mit Empathie auf die Situation Geflüchteter einzugehen. Das Ganze geschieht in Form eines multimedialen Comicstrips, bei dem auch der Humor nicht zu kurz kommt. Hier wird Schüler*innen nicht schon im frühen Alter mit angestaubten Klassikerinszenierungen die Lust am Theater ausgetrieben, sondern ihre Lebenswirklichkeiten in aktueller und begeisternder Machart angesprochen.

© Klaus Wohlmann
Nicht minder aktuell und modern in der Umsetzung und im Inhalt zeigte sich „Störfall“, eine weitere interdisziplinäre Arbeit, die „disdance project“ für die Bühne inszenierte. Wieder gelingt es, den Text von Christa Wolf in eine packende und zeitgemäße Inszenierung einzubinden. Das Stück spielt am 26. April 1986 in der damaligen DDR. Während die Menschen über den Reaktorunfall in Tschernobyl im Unklaren gelassen werden, sorgt sich die Erzählerin gleichzeitig um ihren Bruder, der an diesem Tag einer Gehirn-OP unterzogen wird. Fluch und Segen der modernen Technik und ihre Auswirkungen auf die Menschen kommen hier zur Sprache und fordern das Publikum zur Selbstbefragung heraus. Erneut besticht die Souveränität, mit der „distance project“ seine medialen Mittel einsetzt. Hörspiel, Tanz, Schauspiel und der Einsatz von Video, hier auch mit einer Live-Kamera, ergeben ein facettenreiches Gesamtkunstwerk, das auf mehreren Erzählebenen die Handlung auf die Bühne bringt. Dass die packende Performance dabei nur knapp eine Stunde dauert, gehört auch zum Gestaltungsprinzip der Macher*innen, die ihre Inszenierungen ungemein kompakt und pointiert an die Zuschauenden bringen.

© Klaus Wohlmann
Schon jetzt darf man mit Spannung auf die kommende Arbeit des Duos blicken. In „Brennen – Monodialog mit Diktator“ wird das Verhältnis von Kunst und Diktatur beleuchtet. Die Premiere dieser multimedialen und transdisziplinären Arbeit findet am 16. November 2022 im Bunker K101 in Köln-Ehrenfeld statt. Das biografische Theater basiert auf den Erfahrungen der türkischen Schauspielerin und Theatermacherin Esin Eraydin. In Köln geboren, engagierte sie sich in Istanbul mit ihrer Theaterarbeit für die dortige Demokratiebewegung gegen das Erdogan-Regime und wurde gleich vier Mal verhaftet. Nach ihrer letzten Inhaftierung, bei der sie gefoltert wurde, floh sie aus dem Land und lebt nun wieder in Köln. Esin Eraydins Erlebnisberichte verknüpfen sich mit universellen Beiträgen von Sarah M. Rendel, Ernst Toller, Wolfgang Borchert, Rainer M. Rilke, Sabahattin Ali, Jean-Paul Dubois, Jack Kerouac und Atilla Ilhan zum Umgang von Kunst und Diktatur, die Paula Scherf zu einer Textcollage verarbeitet hat.