Tanzgeschichte schreiben

Die preisgekrönte Bonner CocoonDance Company sucht nach unerforschten Bewegungen, nach besonderen Arten, mit dem Körper umzugehen. Für ihre jüngste Arbeit „RUNthrough III“ trafen sie sich im Vorfeld mit klassischen indischen Tänzer*innen. Entstanden ist ein energiegeladener, mitreißender Abend. Unsere Autorin brachte er zum Mitschwingen.
Erst eine, dann zwei, dann drei, wie Warnschilder oder Antennen stellen sie sich still in den großen Bühnenraum des Bonner Theaters im Ballsaal. Dann kommen immer mehr, acht Tänzer*innen in kobaltblauen Anzügen wippen im Gleichklang, als seien sie ein einziger Körper. Erst nach rund fünf Minuten setzt die Live-Musik des DJs Franco Mento ein, wie ein elektronischer Klagegesang, der immer wieder innehält, um nur zu pulsieren und vibrieren. Dann stehen sie spannungsvoll da, wie um sich vorzubereiten auf die große Eruption. Sachte drehen sie sich von den Schultern her, wie Schrauben, verschlingen sich ineinander, wölben Brustkörbe, strecken Hintern. Die Musik wird lauter, das Wippen stärker, immer mehr steigern sich die Bewegungen, sie quirlen, rotieren, pflügen durch den Raum, brechen aus der Gruppe, kehren wieder zurück. Später gehen sie zu Boden im grünen Licht, werden zu schwankenden Korallen, Krebsen, Spinnenwesen, krabbeln immer schneller vor und zurück, die Beats treiben sie weiter, zu atemberaubender Geschwindigkeit zittern und zucken ihre Körper, Versuche des Aufstehens, der Wesenswerdung, auf einmal scheint es ein Überlebenskampf zu sein, die Elektrorhythmen rasen davon – bis sie sich am Ende wieder ruhig zusammenfinden, als würde ein Blütenkern sich zusammenschließen. Aber wer oder was ist dieses eigenartige, kraftvolle Massenwesen?

© Joerg Letz
Solche direkten Antworten geben die Choreografin Rafaële Giovanola und der Dramaturg Rainald Endraß natürlich nicht. Die preisgekrönte Kompanie CocoonDance haben sie im Jahr 2000 gegründet, im wahren Leben sind die beiden ein Ehepaar: Giovanola ist Schweizerin, aber in Baltimore geboren. Rainald Endraß ist bei Karlsruhe aufgewachsen. Kennengelernt haben sie sich in der Oper Frankfurt: er war Regieassistent, sie Tänzerin in der Forsythe-Company, gemeinsam gingen sie später zu Pavel Mikulastiks Choreografischem Theater in Freiburg, dann nach Bonn. Dort gründeten sie dann ihre freie Kompanie – rund 40 Choreografien sind in 22 Jahren entstanden. „RunThrough III“ ist die dritte Version einer Arbeit, die im August 2021 begann. Für je eine Woche luden Giovanola und Endraß Gruppen aus unterschiedlichen Bewegungskontexten ein, um mit ihnen zu proben. Auf ihrer Seite gibt es eindrückliche Videos davon: Etwa die extrem cool posierenden Voguing-Tänzer*innen. Dann kam eine serbische Folkloregruppe, dann ein paar Baseball-Spieler – und schließlich Schauspieler*innen mit Down-Syndrom. Alle haben sie in „RunThrough“ ihre Spuren hinterlassen. Für Teil III, aufgeführt im Dezember 22 im Theater im Ballsaal, trafen sie sich mit traditionell indischen Tänzer*innen. „RunThrough“ bedeutet übersetzt „Durchlauf-Probe“, und das Offene, Fluide und Organische ist dem Abend eingeschrieben: Jede*r Tänzer*in hat Improvisationsaufgaben, „Tasks“, muss Übergänge selbst erfinden, sogar der Live-Musiker improvisiert. Nie ist eine Vorstellung gleich. Vielleicht macht gerade das den Abend so energiegeladen und mitreißend, dass die Zuschauerin kaum anders kann als mitzuschwingen?

© Caroline Minjolle
Das passt zu CocoonDance: im Tanz alle mit einzubeziehen. Auch so etwas wie „Community Tanz“, also Tanz mit Laien, ist Rafaële Giovanola extrem wichtig. Neben der professionellen Company arbeitet sie auch mit einer Junior-Tanzgruppe sowie mit einem gemischten Ensemble, die Jüngste ist acht Jahre alt, die Ältesten über 75 Jahre alt. Zwei Tage später findet im Theater im Ballsaal – den Spielort teilt sich CocoonDance seit vielen Jahren in friedlicher Koexistenz mit dem Fringe Ensemble – „Next Stop: Dream City“ statt. Vollkommen ausdruckslos, ohne Berührung miteinander, kommen sie in schwarz-weiß-silberner Kleidung aus allen Richtungen, gehen auf die Bühne, wieder ab, unerschrocken, selbstbewusst, gleichmütig – und doch tanzen alle auf ihre Weise, wirken wie Kunstwerke ihrer selbst, sogar eine Frau auf Krücken ist dabei: jede*r ist anders, jede*r normal, und doch formen sie eine konzentrierte, professionelle, zusammenhängende Gemeinschaft. „Die Community Dance Projekte bereichern die Arbeit mit den Profis und andersherum. Ich arbeite mit Laientänzer*innen genauso wie mit professionellen Performer*innen“, erzählt Rafaële Giovanola. Zu dieser Durchlässigkeit passt auch, dass sie eben nicht ausschließlich in der Freien Szene, sondern auch immer wieder an Stadt- und Staatstheatern choreografiert. Für ihre Arbeit „Sphynx“ am Staatstheater Mainz wurde ihr im Dezember 22 der große Faust-Theaterpreis verliehen. Noch bei ihrer Danksagung im Düsseldorfer Schauspielhaus sagte sie optimistisch von der Bühne: „Die Barriere zwischen den Freien und den Städtischen Bühnen wird kleiner…“. Und das passt auch zu ihrer Tanzsprache, die Rainald Endraß einmal mit der Suche nach „ungedachten Körpern“ beschrieben hat: „Wir recherchieren unerforschte Bewegungen, suchen nach einer Sprache, die aus vielen Körpern einen einzigen machen kann, suchen nach besonderen Arten, Körper zu benutzen – und unsere Junioren sind die besten ,ungedachten Körper‘ überhaupt“, so Giovanola.
Die beste Erfindung von CocoonDance, um Tanz für Schüler*innen, Senior*innen, professionelle Tänzer*innen gleichermaßen zugänglich zu machen, ist sicher die MOVE-App : eine bahnbrechende Erfindung. Eine App, die die uralte Frage löst, wie man Choreografien überhaupt aufschreiben kann – und zugleich eine neue Form der Tanzvermittlung ist, die ziemlich viel Spaß macht. „Alle unsere Tänzer*innen trainieren mittlerweile mit dieser App“, sagt Giovanola. In der App kann jede*r „Tasks“ auswählen und selbst interpretieren, das mit Bildern oder Texten illustrieren – und mitwirken an einem Bewegungsglossar, das Worte wie „Gimbal“ oder „Tetris“ kreiert, das man immer wieder abrufen kann. Und so hat CocoonDance aus Bonn in zwanzig Jahren die zeitgenössische Tanzsprache tatsächlich entscheidend vorangebracht.