Portrait 19.10.2022

Theater der realen Paralleluniversen

Theaterkollektiv Pièrre.Vers
© Ralf Puder

Das Theaterkollektiv Pièrre.Vers erschließt mit seiner Arbeit den städtischen Raum, um an konkreten Orten Geschichte mit Geschichten zu verbinden.

Christof Seeger-Zurmühlen hat sich nicht nur in Düsseldorf längst einen Namen gemacht. Von 2003 bis 2011 war er festes Mitglied im Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses. Vor über zehn Jahren schloss er sich mit anderen Künstler*innen zur freien Theatergruppe Pièrre.Vers zusammen. Unter dem Motto „Raus aus dem Theater, rein in die Stadt“ wollen sie seit jeher neue Räume für ihre Kunst erschließen. Das ist auch das Motto des aphalt Festival der Künste, das Seeger-Zurmühlen mit dem Komponisten Bojan Vuletić gründete  Dieses Jahr feierte das Festival zehnjähriges Jubiläum und hat sich schon längst zur zentralen Kulturplattform in NRW entwickelt.  

Es war einmal die Soloshow 

Wenn man ihn nach diesen  Anfängen fragt,  denkt der Regisseur lange nach. Kein Wunder, denn der auffällig strubbelig frisierte Kopf hat schon viel Kreatives erdacht und die Grenzen zwischen individueller und kollektiver Arbeit waren dabei bisweilen fließend. So auch bei Pièrre.Vers. 17 Jahre lang hat Seeger-Zurmühlen als Schauspieler in Stadttheatern auf der Bühne gestanden, bis sein Wunsch nach eigenen Narrativen und Konzepten immer stärker wurde und Seeger-Zurmühlen schließlich Soloshows über deutschsprachige Gedichte der Gegenwart umsetzte. Schon bald interessierten sich auch andere Ensemblemitglieder für seine Arbeit und aus dem „Ich mache das jetzt mal“ wurde ein „Wollen wir nicht zusammen?“. Es war ein künstlerisches Ausprobieren und Neuerfinden, ein Gruppenprozess, der sich immer mehr aus den tradierten Formen des städtischen Theaters bewegte. 2010, erinnert sich der Regisseur, habe sich schließlich ein harter Kern des Kollektivs gefunden, der seither als Pièrre.Vers mit stetig wechselnden Akteur*innen in der Theaterlandschaft arbeitet. Dazu gehören etwa Juliane Hendes (Text), Bojan Vuletić (Komposition), Anna Magdalena Beetz, Julia Dillmann und Alexander Steindorf (Schauspiel). 

Seeger-Zurmühlen sitzt nach der Aufführung des Stücks „Aktion:Aktion!“ auf Treppenstufen vor einem umstrittenen Kriegsmahl auf dem Düsseldorfer Reeser Platz und zupft Unkraut, während er sich die richtigen Worte überlegt. Hat er diese dann gefunden, sprudeln sie nur so aus ihm heraus. In seiner Sprache und seinen Gesten spiegeln sich der Tatendrang des Kollektivs und die Dringlichkeit seiner Themen. Im Erzählen rutscht der Regisseur immer weiter von den Treppenstufen, bis er schließlich auf dem asphaltierten Boden hockt, als er von den Grundpfeilern der Arbeit berichtet. Unprätentiös und voll bei der Sache.  

 

Raus aus dem Theater, rein in die Stadt   

Die Arbeit von Pièrre.Vers sei von Beginn an assoziativ, fragmentarisch und collageartig gewesen, fasst Seeger-Zurmühlen das Konzept zusammen. Doch so experimentell die Form war, so klar war das Ziel: Das Theater müsse raus aus dem Theater. Neue Orte zu erschließen und städtische Räume neu zu denken, sei bis heute Kernkonzept der Gruppe: „Wir haben immer versucht, Orte aus ihrem Ursprungscharakter herauszuholen und umzugestalten, Paralleluniversen aufzumachen, in die das Publikum eintritt und aktiv wird.“

Schwarz-helle Nacht / Theaterkollektiv Pièrre.Vers

© Ralf Puder

So will Pièrre.Vers nicht nur mit konventionellen (Bühnen-)Grenzen brechen, sondern auch der Geschwindigkeit an großen Häusern entgegenwirken. Die Gruppe arbeitet in Zyklen, die viel Zeit für Recherche und die schrittweise Annäherung an verschiedene Themenkomplexe ermöglichen. Einer dieser Zyklen entstand zwischen 2016 und 2019 unter der Frage: „Wem gehört die Stadt?“ Mit der Performance „Düsseldorf Sous-Terrain“ erkundete das Kollektiv in einer immersiven Theatertour gentrifizierte Quartiere der Stadt und schaute hinter die Fassade: Als „Neues Wohnen” verkaufen Bauunternehmen Wohnkomplexe, die eine Trennung von Arbeit und Privatem auflösen und durch eigene Diensleistungen den Mietpreis nach oben treiben wollen. In der Performance wurden die Zuschauenden selbst zu Investor*innen und imaginierten so direkt die Denkweise hinter der unternehmerischen Strategie. 

Eine Begegnung in diesem Zusammenhang ist Seeger-Zurmühlen ganz besonders in Erinnerung geblieben: Die Tour sollte in einem stillgelegten Tunnel der Deutschen Bahn enden. Als sich die Künstler*innen den Ort zum ersten Mal (illegal)  als potenziellen Spielraum ansahen, trafen sie  einen Obdachlosen, der bereits seit vier Jahren in dem Tunnel wohnte. Solche Begegnungen seien ein wichtiger Teil der Arbeit des Teams: „Du kannst nicht einfach an öffentliche Orte gehen und sagen: ‚Das machen wir jetzt hier!‘ Du musst dich mit den Räumen auseinandersetzen. Der Obdachlose wurde schließlich nicht nur Protagonist des Stücks, sondern auch ein enger Freund der Gruppe. Mittlerweile lebt er in einer Wohnung und arbeitet an verschiedenen Kulturorten der Stadt.  Für Seeger-Zurmühlen sind diese Begegnungen mit Menschen der Kern der Arbeit von Pièrre.Vers und immer wieder fragt er sich: „Wie können wir es schaffen, dass Kunst Menschen zusammenbringt, Fragen stellt und Prozesse auslöst?“ 

 

Geschichten und Gedenken  

Diese Frage leitet auch den aktuellen Zyklus „Historification“. Darin erinnert Pièrre.Vers an nationalsozialistische Verbrechen in Düsseldorf. In enger Zusammenarbeit mit der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf wollen die Künstler*innen zu einer neuen Erinnerungskultur beitragen. Dafür verbinden sie das große Ganze mit einzelnen historischen Ereignissen, mit konkreten Geschichten und echten Gesichtern: „Wenn Menschen, Geschichten und Beziehungen auftauchen, hast du als Theatermacher*in gleich Futter. Das ist ein großer Reichtum“, erklärt Seeger-Zurmühlen. Deswegen orientieren sich auch die insgesamt vier Produktionen innerhalb dieses Zyklus an konkreten Ereignissen der NS-Zeit.  

2019 entstand die szenische Installation „Schwarz-helle Nacht“ über die Ereignisse der Novemberpogrome in Düsseldorf. 2020 folgte die Performance „Aktion:Aktion!“ als Erinnerung an die „Aktion Rheinland“, durch die 1945 die friedliche Übergabe Düsseldorfs an die Alliierten möglich war. 2021 schuf das Kollektiv die für Seeger-Zurmühlen herausforderndste Arbeit: „Im Process“ ist ein performativer Akt zum Majdanek-Prozess. Einer der längsten und aufwändigsten Gerichtsprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte, der am Düsseldorfer Amtsgericht zwischen 1975 und 1981 ausgetragen wurde. Das Ende des Zyklus „Endstation fern von hier“ erzählt die Geschichte einer Ukrainerin, die 1941 als Zwangsarbeiterin nach Düsseldorf deportiert wurde, um für die Firma DüWag Wagons zu bauen.  

Schwarz-helle Nacht / Theaterkollektiv Pièrre.Vers

© Ralf Puder

Alle Inszenierungen dieses Zyklus tragen die typische Pièrre.Vers-Handschrift: Sie verknüpfen Archivdokumente mit persönlichen Schicksalen und bereiten diese mit inszenatorischer Kreativität auf – ob szenisch, installativ oder performativ. Frei nach seinem Motto trägt Pièrre.Vers Geschichten in die Stadt, macht an konkreten Orten konkrete Geschichte fest und so historische Ereignisse greif- und erlebbar. Ob vor fragwürdigen Denkmählern, wie dem 39er-Kriegsmahl zur Ehrung von Soldaten des Ersten Weltkriegs auf dem Düsseldorfer Reeser Platz, in der Bahn oder zwischen den Gleisen eines historischen Betriebshofs – Pièrre.Vers will Orte und Erinnerungen neu erzählen. „Das ist natürlich auch eine Verantwortung, die wir jedes Mal sehr demutsvoll annehmen.“  

Die Erinnerungen noch enger mit der Gegenwart zu verknüpfen, versteht Seeger-Zurmühlen als Zukunftsaufgabe: Mit ihrem nächsten Zyklus wollen die Künstler*innen deswegen rechten Terror aus der jüngeren Vergangenheit thematisieren. Im kommenden Jahr widmet sich Pièrre.Vers dafür dem „Wehrhahn-Attentat” von 2000. Für 2024 ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen geplant. 

Doch auch die „Historification-Reihe“ will Pièrre.Vers weiterspielen – so lange, wie es geht. Ein Unterfangen, das Seeger-Zurmühlen sichtlich stolz macht: „Sich als freie Gruppe mit so einer Vielzahl an Produktionen durchzusetzen, ist wirklich etwas Besonderes. Im Jahr 2022 werden wir 104 Vorstellungen gehabt haben.“ 

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Simone Saftig
Simone Saftig
studierte Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften. Sie arbeitet am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und schreibt als freie Autorin neben kritik-gestalten auch für Theaterfestivals und den RuhrBühnen-Blog.