„Ich wollte alles werden, was eigentlich Jungs sind“

In einer wilden Mischung aus biografischem Theater, Live Musik, Tanz und Geschichte nimmt uns das Kollektiv Vergissmeinnicht mit auf eine Achterbahnfahrt durch die verschiedenen Realitäten des Frau-Seins.
Als das Publikum den Theatersaal betritt, sitzen die drei Performerinnen bereits im Halbkreis auf der Bühne. Der runde Teppich, die warme Beleuchtung und die rustikalen Holzkisten als Bücherregale für feministische Literatur schaffen die gemütliche Atmosphäre eines Wohnzimmers. Gekleidet in taubenblaue Jumpsuits und mit aufgeklappten Büchern in ihrem Schoß tauschen sich die Darstellerinnen tuschelnd über deren Inhalte aus. Die Szenerie hat direkt etwas Privates – und so soll es an diesem Nachmittag auch bleiben, denn in dieser Inszenierung spielt niemand eine Rolle: Die Performerinnen bleiben sie selbst. Neben persönlichen Geschichten teilen sie sowohl Erzählungen über historische und einflussreiche weibliche Figuren als auch die von etlichen Interviewpartnerinnen, die als Videoprojektionen ihren Weg ins Stück finden. Dabei kommen Fragen auf, die nicht nur die Performerinnen selbst beantworten, sondern die sie immer wieder auch interaktiv an das Publikum stellen.
„Was wolltest du werden, als du klein warst?“

© Mario Soose
Von Bankdirektorin über Detektivin bis zur Schriftstellerin: Die Frauen und Mädchen, die auf die Leinwand projiziert werden, bieten eine Vielfalt von Antworten. Performerin Freya-Maria Müller erzählt, dass sie Astronautin werden wollte, genau wie Mae Jemison – Ärztin und erste Afroamerikanerin im All. Kurz darauf tränken blaues Scheinwerferlicht und bunte Discolichter die Bühne, während die Darstellerin in Zeitlupe auf Requisiten herumbalanciert. Die Bühne wird zum Universum – und die Message: Alles ist möglich! Darstellerin Melanie López López greift den Optimismus auf und berichtet enthusiastisch im Wechsel zwischen Deutsch, Spanisch und Englisch von ihrem Kindheitstraum, Tänzerin zu werden. Trotz der Erfüllung ihres Traums ist ihr Weg jedoch geprägt von Ablehnung und Konkurrenzdruck – negative Ereignisse, die sie in einer ergreifenden Choreografie deutlich zum Ausdruck bringt.
„Was möchtest du unbedingt verändern?“
Im Laufe des Stücks wendet sich schließlich Musikerin und Halbiranerin Mina Schelpmeier an das Publikum: Sie fordert zu einem Experiment auf, bei dem jede anwesende Person je einen Finger runternehmen soll, wenn sie die Dinge, die Schelpmeier aufzählt, mindestens einmal in ihrem Leben getan hat. Es sind unschuldige Handlungen, wie ein Kuss in der Öffentlichkeit oder als Mädchen auf der Straße Fahrrad zu fahren, doch die Auflösung des Experiments erscheint dann als das Gegenteil: Wer nicht mehr alle Finger oben hat, kann sicherlich nicht im Iran aufgewachsen sein, denn dort sind all diese harmlosen Dinge verboten. Es folgt eine Live-Performance von Schelpmeiers Song „Baba said“, der sich auf die andauernden Proteste im Iran bezieht, während das Publikum Raum hat, sich die zuvor aufgelisteten eigenen Privilegien vor Augen zu führen.

© Mario Soose
Sodann löst eine Modenschau unter Discobeats die ernste Thematik ab. Die Performerinnen tragen nun Korsett, hohe Schuhe und rote Lederjacke. So schnell, wie das Geschehen beim Zuschauen Spaß bereitet, schlägt die Stimmung jedoch wieder um: Die Darstellerinnen laufen auf der Stelle und rufen sich Schönheitsideale und gesellschaftliche Erwartungen zu, mit denen Frauen und weiblich gelesene Personen immer wieder konfrontiert werden.
„Iss auf!“ – „Nimm ab!“ – die Ausrufe, das Laufen und die Widersprüche scheinen beinahe kein Ende zu nehmen.
Eine Performance als emotionale Achterbahn
Die Inszenierung lässt eine*n sicherlich emotional aufgeladen zurück. Der stetige Wechsel zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß fordert auf der einen Seite seinen Tribut, auf der anderen Seite zeigt es wunderbar die polarisierenden Realitäten des Frau-Seins: Erschöpfung, weil viele Situationen immer noch unfair und aussichtslos erscheinen, aber auch Leichtigkeit und Empowerment, weil sich vieles wandelt und es inzwischen etliche, weibliche Vorbilder gibt. Die privaten Erzählungen und die Nähe zum Publikum schaffen eine Atmosphäre, in der Sich-Wohlfühlen erstaunlich leicht fällt, auch wenn aufgegriffene Thematiken wie Victimblaming oder Selbstkritik dies eigentlich nur schwer zulassen.
Es fällt aber auf, dass die Performance und ihre facettenreichen Inhalte sich – zumindest nicht explizit – mit Transfrauen auseinandersetzt. Ein Wunsch, dem hoffentlich in zukünftigen Aufführungen nachgegangen werden kann.