Digitale Sichtbarkeit, Interview 31.12.2022

Vertanzte Wörter

Elsa Artmann und Samuel Duvoisin
© Arne Schmitt

In ihren künstlerischen Formaten verbinden Elsa Artmann und Samuel Duvoisin Sprache mit Bewegung, Schreiben mit Tanz. Mit der digitalen Plattform „Sanfte Arbeit“ wollen sie nun ihre Schreibprozesse sichtbar machen und die Öffentlichkeit aktiv daran teilhaben lassen.

Vorhang auf, das Publikum ist Teil einer Aufführung, Vorhang zu. Wie kann das Publikum aber auch vor und nach einer Aufführung an der Produktion teilhaben? Elsa Artmann und Samuel Duvoisin haben begleitend zu ihren bisherigen Tanzprojekten immer auch Textformate publiziert, wodurch jede Aufführung auf eine Art und Weise fortbesteht. Mit der Einrichtung der Schreibplattform „Sanfte Arbeit“, in Zusammenarbeit mit dem Digitalstudio Frankaflux, planen sie nun einen digitalen Raum zu öffnen, der es ermöglicht, schon vor der Aufführung am künstlerischen Prozess teilzuhaben: einen Ort des kollektiven Schreibens.

Die Arbeit von Artmann & Duvoisin zeichnet aus, dass sie die Praxis des Tanzes mit der Praxis des Schreibens innerhalb performativer und installativer Formate im Theater- und Kunstkontext zu einem künstlerischen Mittel verschränken. Sie verbinden Bewegung mit Sprache, wodurch Wörter zur physischen Realität werden. Ihre Projekte beschäftigten sich thematisch mit Konzepten gesellschaftlichen Zusammenlebens wie die Kleinfamilie, Wohnen und Arbeit. Mit „Pressspan“ erarbeiteten sie nach vorangegangene Kurzresidenzen in Wohnungen von Mieter*innen in Köln-Mülheim ein Bühnenstück, das anhand der Wohnverhältnisse die gesellschaftliche Ungleichheit untersucht. Bei der Inszenierung erhält man einen Briefumschlag mit Zugangslink, über den man selbst Teile der Performance ausführen kann. Eine Postkarte mit Fragen lädt zudem dazu ein, nach der Aufführung zuhause über das eigene Wohnen nachzudenken. Generell sollen die Texte jedoch nicht ausschließlich als Erinnerung an das Bühnenformat dienen. Die Auszeichnung des Förderpreises für Junge Buchgestaltung 2022 für das Skript zu ihrem Stück „Umzug in eine vergleichbare Lage“ bestätigt, dass den Textformen bereits eine künstlerische Eigenständigkeit zugesprochen wird.

Im aktuellen Bühnenstück „A voice of generation“ untersuchen sie neoliberale Konzepte zwischen Selbst und Arbeit im Geflecht des Kapitalismus. Thematisch anknüpfend soll im ersten Projekt mit der Plattform die Empfindsamkeit als Kompetenz in performativen als auch versorgenden Berufen hinterfragt werden. Welche Funktion nimmt die digitale Plattform dabei genau ein?

Eure Stücke zeichnet aus, dass sich ein fluider Zustand zwischen Bewegung und Sprache herstellt. Wie hat sich diese Ästhetik entwickelt?

Artmann: Immer wieder gibt es die Vorstellung, dass Tanz dort beginnt, wo die Grenze der Sprache erreicht ist: das Unsagbare im Tanz. Das ist einfach zutiefst nicht meine Empfindung. Ich selbst denke beim Tanzen die ganze Zeit sprachlich. Deswegen schließt es sich für mich nicht aus, dass Bewegung und Sprache wie zwei Spuren nebeneinander laufen können und sich auch gegenseitig viel zu sagen haben.

Wie werden die Texte, die ihr auf der Bühne nutzt, innerhalb eurer künstlerischen Arbeit produziert?

Artmann: In unserem Prozess gibt es zwei verschiedene Arten, um Text zu generieren. Einerseits entstehen die Texte im Tanzstudio. Aber gerade seit der Corona-Pandemie, als wir phasenweise nicht am gleichen Ort sein konnten, nutzen wir andererseits einen provisorischen Blog als Plattform für ein gemeinsames Schreiben. Zu vereinbarten Zeitpunkten teilen wir dort Formen von Alltagsbeobachtungen, welche sich thematisch für unsere Projekte eignen.

Wie genau fungiert dieser Blog als euer Werkzeug?

Artmann: Dieser Blog ist ganz wild. Dort sind indiskrete Texte drauf, die eindeutig nicht für eine Öffentlichkeit überarbeitet sind. Bisher diente er eben vor allem als Austauschmedium für alle, mit denen wir arbeiten. Mit „Sanfte Arbeit“ soll sich die Idee des Blogs erweitern und für ein öffentliches Schreiben geöffnet werden.

Welche Chancen haben sich durch den Blog aufgetan?

Duvoisin: Wir konnten als Gruppe während des Lockdowns in Kontakt bleiben. Als wir nicht ins Studio gehen konnten, konnten wir so trotzdem in die meist sperrigen, komplexen Themenstellungen unserer Arbeit eintauchen.

Artmann: Die Lockdown-Erfahrung hat uns außerdem gezeigt, dass wir als Gruppe zwar durch die bereits kontinuierliche Arbeit eine enge Verbindung haben, aber die vereinzelten Texte noch einmal eine andere Intimität zwischen uns herstellten.

Innerhalb eures künstlerischen Schaffens habt ihr nun Erfahrungen sowohl im Tanz als Praxis als auch im Schreiben als Praxis gesammelt. Im Prozess selbst: Gibt es erst das Wort oder die Bewegung?

Artmann: Bei unserem aktuellen Stück „A voice of a generation“ beispielsweise haben wir Bewegungsinterviews mit uns selbst und anderen Tänzer*innen geführt und nach einer Bewegung gefragt, die für deren tänzerischen Hintergrund stellvertretend ist. Das Material dient wiederum als Basis, um in einem Format von Bewegung und Sprachen zu improvisieren. Dabei geht es darum, die eigenen inneren Vorgänge beim Bewegen transparent zu versprachlichen: Ich schildere, was ich hier gerade tue.

Neben den Texten, die direkt in das Stück verflochten werden, entsteht anderes Textmaterial, das ihr in unterschiedlichen Formen zusätzlich zur Produktion publiziert habt. Sie trotzen dem flüchtigen Charakter von Tanz. Wie kamt ihr auf die Idee?

Duvoisin: Durch das Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig waren wir lange in Kontakt mit einem Feld, bei dem es eine materielle Produktion gibt, die auch was Überdauerndes hat. Nun haben wir uns eine ganze Weile mit der Methode der Scoring Practice (ein Score wird allgemein als eine Möglichkeit verstanden, um praktische Handlungen in einem System festzuhalten, deren Form erst einmal fast alles sein kann) beschäftigt. Dadurch sind parallel neben den Handlungen auch Textformen entstanden, die schlussendlich kein Teil des Stücks selbst geworden sind. Gerade an dem Punkt, wo gewisse Momente der Aufführung nicht mehr abrufbar sind, können diese Texte als eine andere Form des semantischen Erinnerungssystem wirksam werden.

Artmann: Begonnen haben wir mit der Veröffentlichung von Scores in Form von Handlungsanweisung oder Fragebögen, als interaktives Kommunikationsmittel für die Wiedergabe von Tanz. Daraus hat sich für uns dann die Frage nach Möglichkeiten von literarischen Formen von Tanz ergeben. Denn aus der Herausforderung des Aufschreibens und dem Prozess des Entscheidens, was wir überhaupt teilen wollen, sind wir von Scores zu einer Methode übergangen, die wir mittlerweile Tanzfiktion nennen.

Was ist unter Tanzfiktion zu verstehen?

Artmann: Darunter kann man sich literarische Texten mit erzählerischem Charakter vorstellen, die von Erfahrungen aus der Innensicht der tanzenden Person berichten. Es sollte nicht darum gehen, diese Erfahrungen anhand des Textes nachahmen zu wollen. Viel eher lädt der Text wie bei einem Roman ein, dem Gelesenen nachzuempfinden.

Mit welchen Publikationen habt ihr begonnen und wie habt ihr die zusätzlichen Kosten finanziert?

Duvoisin: Wir sind total die Fans von Martha Rosler, welche die Kunst mit Postkartenromanen als episodisches Weitergeben sehr intensiv betrieben hat.

Artmann: Ein kleineres Format als die Postkartenromane gibt es einfach nicht. Das Budget, was sonst für Werbemittel kalkuliert ist, haben wir dann genutzt, um Publikationen zu machen, die für uns eine Eigenständigkeit haben.

Wie kam der Wunsch auf, eure Schreibprozesse auch digital öffentlich zu machen?

Duvoisin: Gar keine Frage, ich liebe ein gebundenes Buch und möchte das auch weiterhin machen. Doch nachdem das Publikum für eine Eintrittskarte schon einen bestimmten Betrag zahlt, kauft sich nach einer Vorstellung niemand mehr diese Publikation. Eigentlich müsste es das umsonst dazugeben oder bereits im Preis mit einberechnet sein. Aber der entscheidende Faktor ist für mich, dass mit solchen Publikationen auch eine irre materielle Produktion einhergeht.

Artmann: Es geht uns darum, eine Plattform zu finden, die unseren Texten mehr entspricht. Eine Plattform, die es uns ermöglicht, ausufernder zu schreiben und auch Querverbindungen zulässt. Bisher spiegeln die Texte nicht den Schreibprozess unseres Ensembles wider. Die rohen Texte in unserem Blog sind viel weniger gezielt, viel weniger in eine bestimmte Form gepresst und verstehen sich eher als Einträge in ein Tagebuch; stehen also erst einmal unabhängig voneinander für sich selbst. Vor allem aber soll die Plattform Zeitlichkeit und die Kontinuität des Schreibens spürbar machen. So soll das Geschriebene stetig weiter wachsen und nachträglich noch umstrukturiert werden können.

Wie unterscheidet sich „Sanfte Arbeit“ von euren bisherigen Publikationen? Mit was wird sich die Plattform thematisch auseinandersetzen?

Artmann: „Sanfte Arbeit“ soll uns als Plattform bei mehreren Produktionen begleiten, anstatt dass wir eine Publikation pro Produktion veröffentlichen. Unsere erste Arbeit mit dieser Plattform heißt „Service und Gefühl“ und setzt sich mit Konzeptionen von Empfindsamkeit als Kompetenz in performativen als auch versorgenden Berufen auseinander. In Duos sollen sich Menschen aus einem jeweilig konträren Berufsfeld darüber austauschen, was eine Form von in Service übergegangene Empfindsamkeit eigentlich bedeutet.

Wie kamt ihr darauf, euch mit diesem Thema zu beschäftigen?

Artmann: Die Idee beruht auf einer Frage, die wir uns immer wieder stellen: „What is my work? What kind of service am I providing? Am I providing service?” Diese Fragen sind für uns erst einmal nicht so richtig beantwortet, obwohl wir es immer wieder versuchen. Gerade andere Projekte, in denen wir außerhalb unserer kollektiven Arbeit andere Rollen einnehmen, laden uns ein, diese Fragen intensiv zu beobachten.

Sind Service/Dienstleistung und Gefühl nicht sich zwei ausschließende Entitäten?

Artmann: Nicht unbedingt ausschließend, aber auch wir erkennen eben ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Gefühl und Dienstleistung. Mit Blick auf Tanz wird die Empfindsamkeit gerade in somatischen Techniken (eine Tanztechnik mit Fokus auf das Spüren und Fühlen des eigenen Körpers) methodisiert und somit zu einer künstlerischen Kernkompetenz entwickelt.

Euer anfänglich intimer Blog wird zu einem Ort des kollektiven Schreibens. Wer soll daran teilhaben?

Duvoisin: Erfahrungen aus unserem ersten partizipativen Projekt haben uns gezeigt, dass es in einer Projektphase kaum machbar ist, soziale Kontakte aufzubauen und diese Beziehung auch tatsächlich stetig zu pflegen. Deswegen haben wir in einem Bürgerzentrum in Köln Deutz einen Stammtisch etabliert, bei dem wir alle zwei Wochen eine offene Schreibwerkstatt anbieten. Dort suchen wir gemeinsam nach Formaten, wie wir über Gemeinsamkeiten sprechen können. Das Schreiben als eine Art der Selbstermächtigung. Wichtig ist es für uns eine Kontinuität herzustellen und zu schauen, welche Beziehung innerhalb der nächsten drei Jahre durch dieses Format entstehen.

Könnt ihr noch präziser werden, an wen sich dieses Projekt richtet?

Artmann: Inspiriert von der Arbeit innerhalb der Produktion „Pressspan“, fänden wir es schön, Menschen zu erreichen, mit denen es eine räumliche Nähe gibt. Gleichzeitig sollen sich ihre Leben beruflich von unseren unterscheiden. Es mag romantisch klingen, aber: Warum sollen Leute, die sich eine Stadt oder einen Alltag im gleichen Umfeld teilen, trotz ihrer Unterschiedlichkeit keine gemeinsamen Gesprächsthemen finden? Wir sitzen zwar an verschiedenen Stellschrauben, aber dennoch im gleichen Gefüge. Bringt der jeweilige Arbeitsalltag ein völlig anderes Erleben hervor, gibt es trotzdem gemeinsame Faktoren wie das Verhältnis zur Empfindsamkeit, die uns in Berührung kommen lassen.

Wie arbeitet ihr mit den Leuten aus dem Bürgerzentrum zusammen?

Artmann: Der Wunsch wäre es, sich analog und im gleichen Raum zu begegnen, sodass auch mit gemeinsamer Bewegung gearbeitet werden kann. Tatsächlich ist erst einmal das persönliche Gespräch wichtig. Das Schreiben würde dann als Fortsetzung der Kommunikation genutzt werden; als ein kollektives Schreiben.

Duvoisin: Kollektives Schreiben ist im Grunde genommen erst einmal ein fettes Problem. Mit Hilfe eines vorangegangenen Mentoring innerhalb eines anderen Projekts wurden wir durch Philipp Blömeke an die Gestaltung von Schreibprozessen, gerade wenn daran mehrere Personen teilhaben, herangeführt. Deswegen wird es nicht darum gehen, gemeinsam an einem Text zu schreiben, sondern erst einmal für die möglichen und naheliegenden Formate des Schreibens ein Gefühl zu bekommen.

Wird aus dem Material ein Bühnenformat hervorgehen?

Artmann: Ja, es soll eine Reihe von Produktionen geben, die sich mit Teilaspekten des Überthemas „Sanfte Arbeit“ befassen. Wobei noch offen ist, wie sich die Bühnenprojekte zu den Inhalten der Plattform verhalten. Denn bisher wünschen wir uns auch eine Eigenständigkeit dieser Plattform.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Plattform?

Duvoisin: Wir haben eine Testphase von einem halben Jahr ausgelegt. Mit dem NRW-Landesbüro schaue ich danach, wie wir dieses Projekt längerfristig tragfähig machen können, denn die Plattform verfügt über das starke Potential des gegenseitigen Lernens. Natürlich handelt es sich um eine Projektarbeit, die wir so auch noch nicht gemacht haben. Deswegen ist es auch die Überlegung mit einer größeren Institution wie Caritas zu kooperieren.

Ab 16. Januar 2023 bietet Artmann&Duvoisin alle zwei Wochen an sechs Terminen eine Schreib- und Bewegungswerkstatt zum Thema Arbeit und Liebe im Bürgerzentrum Deutz an. Innerhalb dieses Labors beschäftigen sie sich mit folgenden Fragen: Darfst du bei deiner Arbeit fühlen, wie du willst, solange du sie tust, oder kannst du sie überhaupt nur tun, wenn du dabei die richtigen Gefühle empfindest? Liebst du deine Arbeit? Bist du für die Liebe nach Köln gezogen oder machst du hier jetzt irgendeinen Job? Mehr Informationen findet man auf ihrer Instagramseite und Homepage. Eine regelmäßige Teilnahme wird zwar empfohlen, ist aber nicht Voraussetzung.

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#digitalesichtbarkeit, Onlineplattform

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Thaddäus Maria Jungmann
Thaddäus Maria Jungmann
studierte Szenische Künste in Hildesheim sowie Musical in Osnabrück. Thaddäus lebt als freiberufliche*r Performer*in in Köln, wo Thaddäus sich momentan im Masterstudiengang Angewandte Tanzwissenschaft befindet. Neben kritik-gestalten schreibt Thaddäus für die Onlineplattform Tanznetz.