Interview 31.12.2022

Von der Zukunft des Erinnerns

karussell.digital.lokal / theaterkunstkoeln
© theaterkunstkoeln

Wie erinnern wir an den Holocaust? „Karussell.Digital.Lokal“ von theaterkunst.koeln führt an Orte, die an die Shoah erinnern, und schafft neue Plattformen für Begegnung. Ein Gespräch mit Andreas Schmid und den Spieler*innen Taly Journo und Martina Kock.

Wie erinnern wir in Zukunft an den Holocaust? Was bleibt, wenn es immer weniger Zeitzeug*innen gibt, die uns mahnen, vorsichtig, wachsam und respektvoll zu sein? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Verein theaterkunst.koeln rund um Andreas Schmid schon seit Jahren. Gemeinsam mit der Shoah-Überlebenden Edith Bader-Devries entwickelte die Gruppe das „Karussell der Erinnerung“: Eine Inszenierung, die Zuschauer*innen an Orte führt, die an die Auslöschung der 6.000 Jüd*innen erinnern, die am Schlachthof Düsseldorf-Derendorf versammelt und über den dortigen Güterbahnhof ins Ghetto Riga deportiert wurden.

Während der Pandemie wurde das Stück zu „Karussel.Digital.Lokal“ weiterentwickelt, es schalteten sich Zuschauer*innen aus Deutschland, Israel und Frankreich dazu. Jetzt bleibt es als hybrides Filmdokument dauerhaft sichtbar. Mit seiner künstlerischen Arbeit will theaterkunst.koeln immer neue Plattformen für Begegnung und Auseinandersetzung schaffen: Plattformen, die von allen Seiten für alle zugänglich sind, auf denen jede*r einen eigenen Punkt zur Anknüpfung finden kann. Denn nur, wenn wir eine emotionale Verbindung zu diesem Teil der Geschichte haben, werden wir weiter daran erinnern. Ein Gespräch mit Regisseur Andreas Schmid und den Spieler*innen Taly Journo und Martina Kock.

In Eurer Arbeit schafft Ihr Platz für Themen, die im Alltag häufig ausgespart werden. Wie nähert Ihr Euch diesen Themen?

Taly Journo: Als ich Teil des Teams wurde, hatte die Arbeit an „Karussell der Erinnerung“ gerade begonnen. Ich habe gleich gespürt: Da ist Tiefe drin, es findet eine echte Auseinandersetzung mit der Thematik statt. Nie ging es darum nur zu sagen „Oh Gott, wie schlimm wir Deutschen sind“, sondern vielmehr um die Akzeptanz des Geschehenen und den produktiven Blick in die Zukunft. Darum, zu schauen, was können wir heute machen? Für mich ist das eine einfache Formel: Aus der persönlichen Geschichte herausarbeiten und das in eine bestimmte Form abstrahieren, um daraus Kunst zu machen und nicht Therapie.

Andreas Schmid: Es ist im weitesten Sinne eine theaterpädagogische Herangehensweise. In der Regel beginnen wir mit Workshops oder Thementagen. Zum Beispiel arbeiten wir schon lange mit dem Deutschen Sport & Olympia Museum in Köln zusammen, veranstalten dort die Thementage „Vielfalt im Sport“ und entwickeln dann eine Theaterproduktion. Wir wollen Räume für Peer-to-Peer-Formate und Empowerment herstellen. Ich war lange Zeit Schauspieler beim Agora Theater in Belgien, das damals noch von dessen Gründer Marcel Cremer geleitet wurde. Er hat diese autobiographische Methode damals mit dem Ensemble entwickelt, ganz ohne den therapeutischen Ansatz. Das hat mich sehr geprägt.

Bei „Karussell der Erinnerung“ stellt Ihr den Holocaust in den Mittelpunkt und findet eine ungewöhnliche Form des Erinnerns. Wie sieht die aus?

Schmid: Es ist ein Stück mit einzelnen Stationen, an denen sich drei Schauspieler*innen und ein Musiker an Dinge erinnern, die sie selbst gar nicht erlebt haben. Angefangen am Alten Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf, von wo aus sehr viele Menschen deportiert wurden, setzen wir uns mit Texten von Zeitzeug*innen sowie institutionellen Dokumenten der NS- und Nachkriegszeit auseinander. Alles dreht sich um die emotionale Verankerung von Erinnerung und um das Zugänglichmachen sperriger historischer Dokumente. Beispielsweise versteigerte die Finanzbehörde die letzten Habseligkeiten deportierter Jüd*innen an die Bevölkerung und dokumentierte das akribisch mit einer Unmenge an Protokollen. Solche amtlichen Dokumente scheinen trocken, ermöglichen aber einen ganz neuen Raum für Erinnerung, wenn wir sie emotional zugänglich machen.

Journo: „Karussell der Erinnerung“ führt die Zuschauer*innen an verschiedene Orte, die an die Deportation der 6.000 Jüd*innen vom Schlachthof Derendorf aus über den dortigen Güterbahnhof ins Ghetto Riga erinnern. Eine der Überlebenden ist sogar selbst dabei: Edith Bader-Devries aus Düsseldorf war Teil der Stückentwicklung und der Vorstellungen. Genauso gibt es eine Station, an der es um die autobiografischen Anknüpfungspunkte von uns Spieler*innen geht. Hier thematisieren wir die Erinnerungskultur in unseren eigenen Familien und laden die Zuschauer*innen ein, mit uns darüber nachzudenken. Wir wollten von Anfang an verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Zeit zusammentragen und so ein – wie soll ich es nennen – umfangreicheres Erinnern möglich machen.

Aus diesem Stück habt Ihr zu Beginn der Pandemie Eure digitale Aufführung „Karussel.Digital.Lokal“ entwickelt, jetzt gibt es sie als Film. Was habt Ihr hier anders gemacht?

Schmid: Anstatt durch Düsseldorf bewegen wir uns bei den digitalen Vorstellungen durch den ländlichen Raum, der in unserer Erinnerungskultur häufig hinten runterfällt. Es ist eine innige Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum auf dem Land: Wer oder was war da? Und was ist heute dort? Dabei erinnern wir in erster Linie an die Geschwister Leopold, Recha und Valentin Lion aus Grevenbroich-Frimmersdorf im Kreis Neuss, die 1941 ebenfalls von Düsseldorf-Derendorf ins Ghetto Riga deportiert wurden.

Das Publikum trifft bei Zoom in verschiedenen Breakoutsessions auf drei Spieler*innen, die Zeitzeugin Edith Bader-Devries sowie eine*n historische*n Gastgeber*in, der*die den eigenen Familientisch zur Verfügung stellt. Sie sitzen zwar nicht im selben Raum, aber am selben Tisch, dem digitalen Familientisch. Bei diesen ersten digitalen Aufführungen haben wir noch Fotos und Filme der Orte und Wege in Düsseldorf-Derendorf als virtuelle Hintergründe genutzt. In der späteren Weiterentwicklung wollten wir weg von diesen „Kulissen“ und unsere Zuschauer*innen nicht an einem digitalen „Ersatz-Ort“ treffen. Stattdessen versuchen wir, den digitalen Raum als einen neuen Raum der Begegnung zu definieren.

In „Karussel.Digital.Lokal“ setzen wir uns, wie auch schon in anderen Arbeiten, mit Dokumenten auseinander. Im Fall der Lions aus Frimmersdorf gab es keine Nachkommen oder Erinnerungen von Zeitzeug*innen. Diese Familie wurde vollständig ausgerottet. Wie erinnert man an sie? Durch die Geburtsurkunde haben wir einen Zugang gefunden. Kontrastiert wird dieses Dokument durch die Vermögensaufstellung, die die Lions selbst anfertigen mussten, und das Protokoll der Versteigerung ihres letzten Hab und Guts nach ihrer Deportation nach Riga. Dieses Dokument belegt, welche Personen aus dem Dorf was für wieviel Geld gekauft haben. Diese 20 Seiten Protokoll sind eine Zumutung, nicht nur für Frimmersdorf heute, sondern für uns alle. Denn es zeigt: Das ist in jedem deutschen Dorf geschehen! Wenn sich Martina und Taly durch den Text arbeiten, wird diese Totalität sehr deutlich.

Das ist der größte Unterschied von Livestream und späterem Film: Im Livestream ist der Prozess der Auseinandersetzung mit diesem Protokoll noch roh und sichtbar. Wegen technischer Schwierigkeiten haben wir diesen Teil nachgedreht – bei der neuen Aufnahme haben die Schauspieler*innen den Text bereits „bewältigt“, er ist verständlicher, aber dadurch weniger verstörend als zuvor.

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Dabei kommen die beiden Filme mit zwei Einstellungen aus: der top-down Perspektive am digitalen Familientisch und der Außensicht auf dem Bürgersteig vor dem Haus der Lions. Die Greenscreens verwenden wir nicht mehr als Kulisse, sondern zum Sichtbarmachen der Dokumente sowie der Fotos der Lions, die unsere Zeichnerin Sabine Rixen aus der „Kennkarte“ herauslöst, indem sie sie übermalt und in Portraits verwandelt.

Martina Kock: Wichtig ist: Wir untersuchen die Dokumente auf ihren emotionalen Gehalt. Wir erinnern uns an die deportierten Menschen, indem wir die Erinnerungen der Überlebenden vom „Ich“ und der Vergangenheitsform ins „Du“ und die Gegenwart transkribieren.

Der Wechsel vom Ich zum Du entspricht unserer Rolle als Erinnernde: Wir sind der (Augen-)Zeug*innenschaft der Überlebenden verpflichtet. Neben den Zeitzeug*innen wird mit diesem „Du“ auch der*die Zuschauer*in angesprochen. Es ist die Einladung, das zu nutzen, was Theater schafft: Begegnung in der Gegenwart, dialogische Verständigung über das, woran wir erinnern wollen. Es ist bei jeder Aufführung ein neuer Aushandlungsprozess für und mit den Zuschauer*innen, denn wir wollen uns nicht sicher sein.

Welchen Mehrwert hat das Digitale hier geboten?

Journo: Zum einen natürlich, dass sich nicht nur geografische Orte, sondern auch verschiedene Zeiten in diesem digitalen Raum miteinander verbinden lassen. Zum anderen die persönliche Ebene: Edith Bader-Devries lebt in einem jüdischen Altenheim in Düsseldorf und das war vollständig in Quarantäne damals, nicht mal ihre Söhne durften zu ihr. Und obwohl sie dadurch für uns unerreichbar schien, entstand durch die Kamera und den Blick in ihr Zimmer eine ganz besondere Nähe, die sonst niemals möglich gewesen wäre.

Kock: Außerdem haben sich Menschen aus verschiedenen Ländern dazuschalten können: Ediths Tochter war aus Australien beteiligt, eine Tante von Taly hat sich aus Tel Aviv eingeschaltet, andere haben aus Frankreich zugeschaut. Zudem konnten wir nach der analogen und der digitalen Arbeit, jetzt auch eine hybride Variante schaffen.

Wie habt Ihr diese intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der Erinnerung daran empfunden?

Journo: Ich bin in Israel geboren und ab meinem sechsten Lebensjahr in Frankreich aufgewachsen. Später als Schauspielerin habe ich es oft erlebt, dass ich aufgrund meiner Herkunft Anfragen zu diesen Themen bekommen habe, auch weil ich Hebräisch spreche. Es waren Anfragen, die sich ganz konkret auf meine Perspektive bezogen. Und ich habe sie immer wieder abgelehnt, weil ich das Gefühl hatte, das wird wie so eine Trophäe benutzt und es wird überhaupt nicht in die Tiefe gegangen. Auch als ich die Ausschreibung von theaterkunst.koeln sah, war ich anfangs sehr skeptisch, aber beim ersten Probentag habe ich mich sofort wohlgefühlt.

Kock: Vor allem diese intensive Beschäftigung mit den Dokumenten, die die Nazis über die systematische Auslöschung jüdischer Menschen erstellt haben, war oft herausfordernd. Mir ist schnell aufgefallen, wie wenig ich mich mit Erinnerungskultur bisher auseinandergesetzt habe. Schnell stand die Frage im Raum: „Hast du eine Verknüpfung, zum Beispiel familiär-biografisch? Was könntest du von dir damit einbringen?“ Und plötzlich deckten sich auch aus meiner eigenen Biografie und Familie so mehrere Karten auf: Ich bekam einen Zugang über meine Mutter und deren Eltern und die Verknüpfungen wurden immer dichter, je länger ich an dem Thema dranblieb. So konnte ich einen für mich ganz neuen Bezug zum Jetzt herstellen. Gleichzeitig wäre es auch okay gewesen, wenn da nichts Greifbares oder eine Leerstelle gewesen wäre. Dann hätten wir damit gearbeitet.

Total wertvoll war für mich, dass wir uns immer eng miteinander austauschen konnten. Parallel zu den eigenen biografischen Verbindungen waren ja wie Detektiv*innen auf den Spuren der Dokumente unterwegs und sind dabei mit immer größeren Untiefen konfrontiert gewesen. Durch die Entwicklung des Stücks konnten wir die Dokumente zugänglicher machen und die entstandene Resonanz untereinander gleich etwas auffangen und einen besseren Umgang damit finden. Dadurch fühlte es sich wie ein weiterer, neuer Schritt in der Beschäftigung mit dem Thema an.

Wie hat sich Euer Blick auf das Erinnern verändert?

Journo: Ich komme aus einer jüdischen Familie und mein Urgroßvater, mein Uronkel und dessen Tochter sind alle nach Auschwitz deportiert worden. Damit habe ich mich schon viel auseinandergesetzt und auch meine Großeltern immer wieder danach gefragt. In der Arbeit mit Andreas habe ich gemerkt, dass er nicht den klassischen Weg geht à la: Wir haben hier ganz viele Texte und jetzt gehen wir da therapeutisch dran. Sondern vielmehr: Wir decken gemeinsam einen Tisch und schauen dann, welche Ideen oder Szenen vor unserem inneren Auge entstehen. Dadurch habe ich erst gemerkt, wie Erinnerung in uns arbeitet und dass die verschiedenen Schichten mitunter in unterschiedlichem Tempo zum Vorschein kommen. Du kannst nichts davon übereilen oder überspringen.

Was erhofft Ihr Euch für die Erinnerungskultur in Deutschland?

Schmid: Ich denke, dass Theater spannende Möglichkeiten hat, den Wahnsinn, der in diesen Dokumenten steckt, zugänglich zu machen. Ich wünsche mir, dass wir uns ehrlich damit auseinandersetzen und unsere Mittel dazu nutzen, Geschichte auch künftig anders zugänglich zu machen.

Journo: Mir ist wichtig, dass wir eine gute Atmosphäre und mehr Räume für Erinnerung schaffen, dass wir gemeinsam erinnern und die Last nicht auf die Schultern Einzelner verteilen. Weniger belehrend, mehr verbindungsstiftend wirken. Theater eignet sich auch deshalb so gut dafür, weil man diese Auseinandersetzung hier eben nicht alleine führen muss, sondern es im Kreis der anderen Anwesenden tun kann.

Kock: Für uns ist das so spannend, weil es keinen normativen Umgang mit Erinnerung gibt und jeder Mensch hier seine eigene Art und Weise hat. Mit theaterkunst.koeln versuchen wir deshalb Plattformen zu entwickeln, auf denen eine gemeinsame Beschäftigung ohne Scheu auch in Zukunft möglich ist. Und ich hoffe, dass wir dadurch den Bezug der Historie zum Heute herstellen können und so einen Beitrag dazu leisten können, dass sich dieser Teil unserer Geschichte niemals wiederholt.

„Karussell.Digital.Lokal“ ist mittlerweile online auf dem Youtube-Kanal von theaterkunstkoeln zu finden: https://youtube.com/@theaterkunstkoeln4458

 

Genre

#digitalesichtbarkeit, Internationales digitales Erzählformat

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Elisabeth Luft
Elisabeth Luft
lebt und arbeitet in Köln als freie Autorin, Kultur- und Theaterjournalistin (u.a. WDR, DLF). Sie studierte Germanistik, Medienkulturwissenschaften und Theaterwissenschaft in Köln, Rom und München. Sie leitet Blogredaktionen bei Theaterfestivals und ist in unterschiedlichen Theaterjurys tätig.