Von Mythen und Menschen

In welcher Welt wollen wir leben? Die Kölner Künstler*innen-Gruppe F.A.C.E. Visual Performing Arts um den Regisseur Kristóf Szabó geht in multimedialen Stücken dem Verhältnis von Mensch und Umwelt nach.
Seit ihrer Gründung im Jahre 2012 ist die Künstler*innen-Gruppe F.A.C.E. Visual Performing Arts unter der Leitung von Kristóf Szabó bestrebt, in den Bereichen Theater, Tanz und Performance neue Wege zu beschreiten. Nicht im Büßerhemd einer asketisch strengen Kunst, sondern als sinnesfrohe Schaffende verstehen sich die Künstler*innen von F.A.C.E./ SPOTNIK – intermediale Künste e.V. Für sie sind Diversität, Vielheit und die Vernetzung von unterschiedlichen Kunstgenres zu einer multi-dimensionalen Mit-Welt eine in die Zukunft weisende Selbstverständlichkeit. Ausdruck dieses neobarocken Verständnisses von Kunst als ergebnisoffene Spielwiese für multimediale Stücke sind zahlreiche Projekte der letzten Jahre. Dabei hat sich der inhaltliche Schwerpunkt in jüngster Zeit auf den Konflikt Mensch versus (Um-)Welt verlagert. Die sich immer drastischer zeigenden Folgen der menschgemachten Klimakatastrophe finden in den Stücken auf vielschichtige Art und Weise ihren Widerklang. Szabó beschreibt die Vorgehensweise als: „klassisches Theater-Material, Mythen und zeitgenössische Narrationen vom Standpunkt des Embodiment neu zu lesen.“

© Stagemoments
Wie in „Aischylos/Marinetti: Prometheische Kultur“ aus dem Jahre 2020. Der Titan Prometheus gehört zu den bekanntesten Gestalten der griechischen Mythologie. Der Gott der Künstler und der Philosophen, der den Menschen das Feuer brachte. Ein Geschenk an die Menschheit, das ihnen die Herrschaft über die Natur mit Hilfe des technischen Fortschritts brachte. Was noch in der Renaissance bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert als segensreiche Errungenschaft gefeiert wurde, wird spätestens mit dem Abzeichnen der ökologischen Krise zunehmend problematisiert. Kristóf Szabó und das F.A.C.E. Ensemble bedienen sich dieser ikonischen Figur, um in einer multimedialen Performance den Zwiespalt zwischen Fortschrittsglauben und Zivilisationskritik auszuloten. Sie thematisieren den gefährlichen Umgang des homo technicus mit digitaler Technik und mit analogem Schmerz. Auf der Bühne kommt dies zur Geltung durch die imposante auf drei Bühnenseiten ausgestrahlte Video-Art des ungarischen Künstlers Ivó Kovács und die physische Präsenz der Protagonisten. Mit Zitaten aus dem antiken Theaterstück des Aischylos beginnt der assoziationsreiche kultur-philosophische Diskurs über die Rolle des Prometheus, der hier zuerst als tragischer Held gezeichnet wird. Ganz anders erscheint die Figur später, wenn Szabó dem Prometheus Passagen aus dem Manifest des Futuristen Marinetti in den Mund legt. Hier wird bei dem späteren Kulturminister im faschistischen Regime von Mussolini das technisch Mögliche als fantastische Zukunftsvision gefeiert. Wie deren Schattenseiten aussehen, das illustriert die fortlaufend zu sehende Videokunst, in der eine Chronologie der Zivilisation ikonische Bilder von totalitären Massenaufmärschen, gigantischen Müllhalden oder gespenstischen Gefängnisanlagen zeigt.
Brillante Videokunst
In „Pest vs. Robot“ aus dem Jahre 2021 wird die literarische Verarbeitung einer historischen Pest-Katastrophe zum Ausgangspunkt. Daniel Defoe (1660-1731), hierzulande als Autor des „Robinson Cruose“ bekannt, schuf mit der „Pest zu London“ (1722) einen bahnbrechenden Reportage-Roman, der heute durch die Covid-19-Pandemie wieder traurige Aktualität erlangt. Die Erzählung schildert minutiös die Chronik der verheerenden Pest der Jahre 1660 bis 1666. Heute liest sich Defoes Darstellung wie eine Blaupause der aktuellen Pandemie. Die fatale Sorglosigkeit im Umgang mit der Seuche kommt hier ebenso zur Sprache wie die sozialen Folgen der später verordneten Quarantäne, in der viele Opfer in ihrer Isolation und Einsamkeit alleine gelassen wurden. Die menschliche Sehnsucht nach einem vom Leiden befreiten Da-Sein wird hier mit den Fallstricken des homo technicus im Umgang mit der Künstlichen Intelligenz ausgelotet.
Wieder brilliert die Video-Art des ungarischen Künstlers Ivó Kovács, die Aufnahmen von einem fernöstlichen Fleischmarkt drastische Bilder der Pandemie folgen lässt, während die zurückhaltend aber stimmungsvolle Live-Musik von József Islai das Geschehen untermalt. Die Videos bieten Verweise auf den sogenannten Spillover, der zunehmenden Übertragung von Erregern vom Tier auf den Menschen als Folge der ökologischen Krise. Vom eindringlichen historischen Bericht schwenkt das Stück in die nahe Zukunft des Jahres 2050. Erneut hat eine Pandemie die Menschheit heimgesucht und der jungen Witwe Claire (Theresia Erfort) ihren Mann Paul genommen. Sie selber erkrankt während der Quarantäne und lebt nun, nach zwei Monaten im Koma, zurückgezogen und alleine in ihrem Haus. Der Einsamkeit versucht sie durch die Möglichkeiten der modernen Technik zu begegnen. Dem Publikum werden nun die einzelnen Roboter des von ihr geleiteten Unternehmens Brain Future Company Unlimited zum Verkauf angeboten. Eine interaktive Auktion nimmt ihren Lauf, bei der die Zuschauer mit ihren Smartphones mitbieten können. War das einstündige Spektakel zwischen medialen Menetekeln, physischen Schrecken und verführerischer Erotik also nichts weiter als das perfide Vorspiel für eine Verkaufsshow? Wie gewohnt ist Szabó weniger an Antworten denn an Fragen interessiert.

© Julia Karl
Auch in „Midas/Heimat“ aus dem Jahre 2022 bedienen sich Kristóf Szabó und das F.A.C.E. Ensemble einer mythologischen Gestalt aus der Antike. Diesmal ist es der habgierige König Midas, der laut Sage in Kleinasien den Gott Dionysos erpresste, ihm die Gabe zu verleihen, alles was er berühre, in Gold zu verwandeln. Bei Szabós dystopischem Stück „Midas/Heimat“ agiert der Herrscher im heutigen Anthropozän. Jetzt übt die Menschheit den dominanten geophysikalischen Einfluss auf das Erdsystem aus und hat die Verantwortung für die Zukunft des Planeten in der Hand. Statt mit der Natur im Einklang zu leben, verachtet die „Midas AG“ die Schöpfung und strebt als mächtiger Global Player einen Wesenszustand an, der ihn über die elementaren Naturbedürfnisse hinweghebt. Der Konflikt Mensch versus Natur wird auf der Bühne in der Kölner Orangerie unmittelbar in der Familie ausgetragen. Der von der Natur entrückte Midas (Maximilian von Mühlen) kommuniziert nur noch mit seinem eigenen Schatten (Sascha Caspar Bauer). Die beiden ergeben sich dem Konsumrausch mittels Lieferdienste, bis die gesamte Bühne von Bergen mit Pappkartons gefüllt ist, die wie ein Kartenhaus um die gierigen Konsumenten zusammenbrechen.
Tanz für Venedig
Wie immer inszeniert Szabó sein philosophisch- poetisch aufgeladenes Stück als eindrucksvolles Sinnesspektakel. Das Bühnenbild und die Kostüme sind in ihrem Spannungsfeld zwischen modernen Konsumgütern und antiken Verweisen spektakulär, der Livemusiker József Iszlai unterstreicht mit seinem Gitarrensound das Geschehen ebenso stimmig wie die Video-Art des ungarischen Künstlers Ivó Kovács. Problematisch erweist sich allerdings die Inszenierung von weiblicher Nacktheit bei Szabo, die sexualisiert ist und ungebrochen einer männlichen Sichtweise folgt. Auch die mittlerweile wohl obligatorische Szene mit Japan-Bondage in den letzten Inszenierungen von Szabó unterstreicht die männliche Dominanz. Wenn Boshi Nawa Juliana Wagner als Hebe einer Fesselung unterzieht, fühlt man sich als unfreiwilliger Zeuge einer Ausübung erotischer Praktiken. Dabei bräuchte das Stück weder die voyeuristische Ausstellung des weiblichen Körpers, noch die fast schon peinlich berührende Japan-Bondage-Nummer, um seine Wirkung zu entfalten. „Kill your Darlings“, möchte man dem Regisseur zurufen angesichts solch überflüssiger Auswüchse.

© Julia Karl
Ein starkes Bild für den menschlichen Irrweg im Umgang mit dem Planeten gelingt Kristóf Szabó und dem F.A.C.E. Ensemble mit ihrer bislang letzten Arbeit „Venedig und der Tod“. Die bedrohliche Häufung von Hochwassern in der Lagunenstadt wird zum eindringlichen Menetekel. Drei Tänzerinnen erzählen dem Publikum vom Werden und dem drohenden Vergehen Venedigs. Drei skelettierte Gebäude bilden die Kulissenlandschaft. Sie befinden sich buchstäblich in einer Schieflage. Zwischen poetischer Rätselhaftigkeit und pointierten Allegorien schreitet die choreografische Inszenierung voran. Der Umgang mit der Natur, die hier als Naturgewalt über die Stadt hereinbricht, ist von morbider Fragilität und doch nicht ohne Hoffnung. Eine rotgewandelte Göttin pumpt über spinnenhafte Fäden neues Blut, neues Leben in die vom Untergang bedrohte Stadt. Wie ein Phönix aus der Asche erweckt sich die Stadt mit zähem Ringen wieder zu neuem Leben. Allerdings ohne aus der maritimen Apokalypse gelernt zu haben. Schon tauchen in dem aus der Versenkung erwachten Venedig Touristenscharen auf und Kreuzfahrtschiff-Kolosse gehen vor Anker – bestrebt, der keuchenden Patientin endgültig den letzten Lebenshauch zu rauben. Das Ringen um Rettung gestaltet sich in dieser bildgewaltigen, multimedialen Inszenierung sinnlich, kraftvoll, komplex und voller Facetten.