Von Trödel und Traumata

Was erben wir von unseren Großmüttern? In „Grandmothers of the future“ spürt das Künstlerinnen-Kollektiv waltraud900 intergenerationalen Beziehungen nach und changiert dabei leichtfüßig zwischen Persönlichem und der ganz großen Weltpolitik.
Angezogen von der Schwerkraft schmiegen sich im Publikumsraum die Körper der Zuschauer*innen an die Sitze. Letzte Vorbereitungen werden getroffen, bevor es auf Zeitreise zu den Großmüttern in der Zukunft geht. Zeitgleich scheinen die vier Performerinnen in Overalls auf der Bühne von der Schwerkraft befreit: Im Zentrum eine kleine Sandfläche, von der sich ihre Fersen abwechselnd langsam lösen. Von der Decke hängende, transparente Plastikkugeln, mit gefärbtem Sand gefüllt, werden zu fernen Planeten. Der Strahl des Gegenlichts hält einen historischen Moment in der Zukunft fest: Die ersten Frauen auf dem Mond. Starke, selbstsichere Posen versprechen eine feministische Expedition, auf der im rasanten Tempo patriarchale Gesetzmäßigkeiten aufgelöst werden. Fußstapfen im Sand manifestieren eine Spurensuche.
Mit „Grandmothers of the future“ stellen sich die Mitglieder von waltraud900 in die Traditionslinie ihrer eigenen weiblichen Geschichte. Dabei untersuchen sie nicht nur ihre eigene Biographie, sondern erkennen die Dringlichkeit, auf die Kämpfe ihrer Vorgänger*innen zurückzublicken. Schon in vergangenen Projekten hat das Kollektiv die Lebensgeschichten ihrer Großmütter porträtiert und immer wieder offenbaren sie – geprägt von der jeweiligen Kultur und dem vorherrschenden politischen System – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Frauen. Nachdem der Fokus bisher auf unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen innerhalb einer Generation lag, widmet sich das aktuelle Stück der intergenerationalen Verbindung zwischen Großmutter und Enkelin. In welche Fußstapfen treten die Enkeltöchter und was erben sie außer Trödel und Traumata?
Ein Lied zum Händehalten
Der Verschluss an den Plastikkugeln öffnet sich, der Sand rieselt zu Boden und Zeit bekommt eine sichtbare Messbarkeit. Persönliche Anekdoten der Großmütter werden zwischen gesellschaftsverändernden Ereignissen, wie demWahlrecht für Frauen, eingebettet. Das Stück folgt einem linearen Zeitstrahl, der die Entwicklung der Rolle der Frau dokumentiert. Immer wieder wird er aber von kleinen Episoden unterbrochen, die einen Einblick in die persönliche Beziehung zwischen Großmutter und Enkeltochter geben.

© Melanie Zanin
Carina Sperk präsentiert den geerbten Dolch ihrer Oma, der sie vor potenziellen Übergriffen schützen soll – eine Geste, die am internationalen Tag gegen die Gewalt an FLINTA* noch stärker wirkt. Am Klavier besingt Jamila Al-Yousef auf arabisch die Liebe zu ihrer Großmutter und schürt Sehnsucht danach, die Hand der eigenen Oma zu halten. Phaedra Pimimsis griechische Oma fragt, wann sie ihre Enkelin endlich im weißen Kleid erwarten darf, und erinnert damit an die gefürchteten Momente, in denen verschiedene Wertevorstellungen Konflikte heraufbeschwören. Eine silberne Schraubenmutter, die an einer Kette um Javeh Asefdjahs Hals baumelt, zeigt, wie das Andenken an eine bereits verstorbene Großmutter bewahrt werden kann.
Doch wie kann man an eine Person erinnern, wenn man nicht einmal weiß, wie die Person aussieht? Mit dieser Frage sieht sich Bianca Künzel konfrontiert. Wegen einer Corona-Erkrankung kann sie nicht auf der Bühne stehen, bleibt uns genauso unsichtbar, wie ihr selbst die eigene Großmutter. Ihre eingespielte Stimme legt sich über die Charleston-Musik, zu der sich die anderen bewegen, und beschreibt Fotos ihrer Oma, die nie aufgenommen wurden. Die Sandkörner haben sich zu einzelnen farbigen Haufen geformt, doch werden dann – wie die Geschichten der Großmütter – zu einem farbigen Netzwerk vermischt. Es wirkt wie ein Aufruf, die bisher unsichtbaren Geschichten von Frauen zu verbinden und ihnen Gehör zu verschaffen.
Wenn die Wut der Frauen Planeten neu ordnet

© Melanie Zanin
Das Bühnenbild von Ria Papadopoulou entwickelt sich zu einem Trainingsort. Schimmernde Oberteile tauchen unter den Anzügen auf, die Kugeln werden zu Fitnessgeräten, die Kampfschminke in Neonfarben verschmiert. Zunächst belächelt das Publikum diese „Call on me“-Szenerie, doch allmählich lassen die Übungen die jahrzehntelange Wut von Frauen brodeln. Die Kugeln schwingen gefährlich durchs Bühnenbild, fast als würde die Wut der Frauen die Planeten in eine neue Ordnung zwingen. Die Energie steigert sich zu einer Party, bei der über den Sand der Catwalk ausgebreitet wird, damit die Großmutter der Zukunft hereintreten kann. Sie vereint alle Geschichten von Frau der Menschheitsgeschichte in sich, wird zur Großmutter des Universums.
Es entsteht eine mitreißende Atmosphäre im Raum, fast erwartet man, dass gleich unzählige bisher unsichtbare Frauen und deren Geschichten auf den roten Teppich der Milchstraße stolzieren und sich selbst feiern. Denn nach dem Rückblick in die Vergangenheit wagt waltraud900 einen Blick in die Zukunft, träumt von einem queer-feministischen Bündnis. Mit Bezug auf die momentanen Proteste von Frauen im Iran verorten sie einen gegenwärtigen Standpunkt der Frau auf dem Zeitstrahl: Unabhängig von Kultur, Herkunft oder Religion sollen Frauen eine Stimme haben, damit sie in Freiheit leben können. Leichtfüßig changieren sie zwischen persönlichen Anliegen und gesellschaftspolitischen Themen und zeichnen so fast beiläufig eine Vision für die Großmütter der Zukunft.