Von Zöpfen, kulturellem Erbe und Gewalt

Im Theater im Depot erzählt das Tanzkollektiv .Dencuentro live und via Zoom von der Entstehung des Stückes „Sinp’a“, in dem sich die Künstler*innen mit dem bolivianischen Tinku-Ritual beschäftigt haben. Unsere Autorin Judith Ayuso war bei der Veranstaltung dabei, einen Tag vor der Wiederaufnahme des Stücks.
Constanza Javiera Ruiz Campusano, Amanda Romero Cánepa und Greta Salgado Kudrass sind nach Bolivien gereist, um dort Fragen von kultureller Identität nachzugehen. Es sind Filme entstanden, Gedanken und Emotionen wurden schriftlich festgehalten, aber vor allem haben sie gemachte Erfahrungen in ihren Körpern gespeichert. Heute nehmen wir auf der Bühne auf Kissen und Stühlen Platz. In der linken Ecke steht ein großer Screen, davor eine Bank und ein Kleiderständer, darauf sind traditionell gemusterte Röcke, bunte Tücher und Hüte drapiert. Auf der anderen Seite steht ein Tisch, von dem aus sich zwei Kollaborateur*innen um die Zoomverbindung in die Welt kümmern, denn auch Zuschauer*innen aus Bolivien und Peru schalten sich dazu. In der Mitte ein Tisch für .Dencuentro.
„Punto de encuentro“ heißt Treffpunkt und als diesen verstehen sie auch ihr Kollektiv. Sie wollen verschiedene Perspektiven einnehmen, andere Menschen einbeziehen und über ihre Arbeit berichten. Passend dazu haben sie ihr Stück „Sinp’a“ genannt, was auf Quechua, der offiziellen Landessprache in Bolivien und Peru, so viel heißt wie Zopf oder Verflechtung. In seiner Arbeit geht es dem Kollektiv darum, all die Perspektiven zusammen zu bringen und sie miteinander zu verflechten wie einen Zopf.

© Ezekiel Angeloni
Das Tinku-Ritual ist einige Jahrtausende alt und wird bis heute zelebriert: Dabei wird getanzt und gekämpft, auch die Frauen kämpfen. Ursprünglich war das Ziel des Rituals, so viel Blut wie möglich an Mutter Erde zu opfern, um im nächsten Jahr eine gute Ernte zu erhalten. Für .Dencuentro entspinnen sich dabei Fragen von Gewalt: Wie menschlich ist sie? Werde ich zu etwas oder jemand anderem, wenn ich aggressiv und gewalttätig werde? Die Bewegungen der Tänzer*innen sind kämpferisch und zielgenau. Sie schwingen die Arme kräftig mit geballten Fäusten um den eigenen Körper, jemand anderes kommt nah, wie zu einer Umarmung, und bekommt die Fäuste ab. Dieser Moment ist tröstend und verletzend zugleich.
Wenn es um Lateinamerika gehen soll, muss über Kolonialismus und Rassismus gesprochen werden. Über Menschen, denen eine fremde Sprachen aufgezwungen und die Menschlichkeit abgesprochen wurde. Im Tanz und in ihren Liedern sind Botschaften versteckt, die nicht offen kommuniziert werden konnten. Es sind Tänze und rituelle Kämpfe des Widerstands geworden. Greta Salgado Kudrass fängt klein an, biegt sich nach hinten, bringt sich aus dem Gleichgewicht. Wieder fliegen Fäuste, sie geht in die Knie, um sicherer stehen und potenzielle Schläge abfedern zu können. Sie geht zu Boden, zuckt, spürt dem inneren Kampf nach.
Wir hören Gedanken über Verletzung und Schmerz, darüber dass das zwei unterschiedliche Dinge sind. Schmerz kann auf eine Verletzung hinweisen, aber man kann Verletzungen davontragen, ohne Schmerz zu empfinden. Angeleitet von Luz Zenaida über Zoom lernen wir einen Volkstanz, wir stampfen und stehen am Ende im Kreis in einer Gruppenumarmung, nach vorne gebeugt, auf unsere stampfenden Füße schauend. Kurz sind wir gemeinsam. Richtig einzutauchen, fällt umgeben von filmenden Handys allerdings schwer, das eigene Bild auf dem Screen holt einen immer wieder ins Außen.

© Ezekiel Angeloni
Fragen wie „Ist es nötig zu respektieren, um zu begreifen?“ klingen dennoch nach. Im Kopf bleibt dabei immer, wie respektlos indigenen Traditionen begegnet wurde, sie als wild und nicht kultiviert abgetan wurden. Eine Auffassung, die auch heute noch immer wieder durchscheint in wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen. Der letzte Satz auf dem Bildschirm bringt einmal mehr die Fragilität des Gegenstands zum Ausdruck: „Eine Kultur ist keine mathematische Formel“, steht da geschrieben. Die Dokumentation geht nahe, weil die Themen von den Kollektivmitgliedern, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografien und dem Erleben des heutigen Tinku-Rituals, reflektiert werden. Und so zeigt .Dencuentro wieder einmal, warum künstlerische Forschung so wichtig ist: weil sie über Persönliches und Dissonanzen berichten kann, wohin Wissenschaft nur schwer folgen kann.