Was ist Erbe?

Die Tänzerin und Choreografin Sara Koluchova erforscht körperlichen Ausdruck und kulturelle Identität. Dafür sammelt sie Bewegungen und ihre Geschichten in Großstädten und Dörfern. Unsere Autorin hat sie in Netphen-Deuz im Siegerland besucht.
Vor einigen Monaten hatte ich, gebürtiges Ruhrgebietskind, noch nie etwas von dem Ort Netphen im Siegerland gehört. Jetzt im Dezember, breche ich schon zum zweiten Mal dorthin auf. Die Landschaft um Netphen-Deuz hat sich seit meinem Besuch bei der Tiny Residency von Boikott Anfang November verändert: Statt herbstlich gelb-brauner Blätter bedeckt mittlerweile eine dünne Schneeschicht die umliegenden Hügel und Bäume. Auch in der Qulturwerkstatt, kurz das „Q“, sind trotz der kurzen vergangenen Zeit Veränderungen erkennbar. In der oberen Etage sind Kameraequipment und Technik – die Ausstattung der ersten Gäste im November – verschwunden. Auch die „Qüche“ ist mittlerweile weihnachtlich dekoriert.
Vor der Qulturwerkstatt stehen immer noch große Baucontainer, weisen auf die Renovierungsarbeiten hin, die in diesem Jahr begannen. Zuvor befand sich in der unteren Etage des Gebäudes eine Tischlerei. Die alten schweren Maschinen, die Anfang November noch in der ehemaligen Werkstatt standen, sind mittlerweile größtenteils verschwunden. Trotzdem eignet sich der Raum, der irgendwann ein Veranstaltungsraum sein soll, an diesem Wochenende im Dezember noch nicht für die Vorstellung der aktuell hier residierenden Künstlerin Sara Koluchova.
Die Qulturwerkstatt im Umbau
„Unsere Baustelle ist schon ein bisschen im Winterschlaf,“ erklärt Stefan Bünnig von der Qulturwerkstatt. Dass das Q aktuell noch keinen Veranstaltungsraum hat, sondern die Überreste der ehemaligen Tischlerei beherberge, habe die Gastkünstler*innen bisher nicht gestört. Die Performance-Kollektive Boikott und Locu&Ruth hätten vor allem draußen gearbeitet. „Und wenn doch mal etwas drinnen gezeigt werden sollte, haben wir unten in der Werkstatt aufgeräumt und den Kamin angemacht. Es war zu der Zeit im November gerade kalt geworden, gab allerdings noch keine Minus Grade. Dann haben wir überlegt, kann das da unten auch für unsere dritte Gastkünstlerin Sara im Dezember funktionieren oder wird es zu kalt?“, berichtet Bünnig.
Schließlich beschloss das Q, einen Raum im Gemeindehaus neben der örtlichen Kirche für die Präsentation der dritten Residenz anzumieten. Nur ein paar Minuten dauert der Fußweg von der Qulturwerkstatt zur Kirche und dem angrenzenden Gemeindehaus. Am Hang gelegen, hat man von dort einen tollen Blick auf Deuz, die Qulturwerkstatt und die umliegende Berg- und Waldlandschaft. Ich staune über diesen Ausblick, den man in den Städten des Ruhrgebiets nur selten hat. Die ganze Ortschaft lässt sich allerdings nicht überblicken, so klein ist Deuz eben doch nicht. Immerhin leben ungefähr 2000 Menschen in der Gemeinde am südlichen Rand von Nordrhein-Westfalen, in der Nähe von Siegen.
Alle Einwohner*innen habe es bisher noch nicht in das seit 2019 etablierte Q verschlagen. Aber es kämen immer wieder neue Menschen vorbei, besonders durch die Tiny Residencies. Für die Residenz des Kollektivs Biokott wurden Leute aus Deuz angesprochen, um mitzuwirken. Dadurch seien einige Einwohner*innen erstmals mit der Qulturwerkstatt in Kontakt gekommen. Während der Residenz von Locu&Ruth hätten die Künstler*innen im benachbarten Ort gewohnt. Dadurch seien auch Menschen von dort auf das Q aufmerksam geworden, berichtet Bünnig. Für die aktuelle Residenz von Sara Koluchova akquirierte das Q erneut Menschen aus der Umgebung. Sie kommt aus Tschechien und begann mit 15 Jahren ihre tänzerische Ausbildung am Duncan Centre Konservatorium in Prag. Die sechsjährige Ausbildung kombinierte Abitur und Hochschulabschluss mit der Ausbildung im zeitgenössischen Tanz. Während des Studiums zog es die Künstlerin für ein Auslandssemester an die Hochschule für Musik und Tanz in Köln. 2017 ging sie dann für ihr Masterstudium in Tanzkomposition an die Folkwang Universität in Essen. Seit Ende ihres Studiums arbeitet Koluchova als freischaffende Tänzerin und Choreografin vor allem in Soloprojekten.
Gesten aus ganz Europa
In ihren Choreografien beschäftigt sie sich viel mit Recherche. 2021, mitten in der Corona Zeit, entwickelte sie ein Solo-Stück, bei dem sie sich mit ihrer eigenen Herkunft auseinandersetzte. „Ich stellte mir die Fragen, warum Tschechien mein zu Hause ist, auch wenn ich schon seit sechs Jahren in Deutschland lebe und warum der Gedanke, dass ich vielleicht nicht nach Hause fahren kann, auf einmal so wichtig für mich war“, berichtet sie, als wir nach der Performance mit Kaffee und Keksen im leeren Gemeinderaum sitzen.
Ihre Solo-Performance zeigte sie zunächst bei einem Festival in Italien. Im Anschluss entwickelte sie ihr Konzept weiter: „Ich fand es interessant, diese Fragen, wo man sich zu Hause fühlt, wer man ist, wie einen die eigenen Vorfahren geprägt haben, auch anderen Menschen zu stellen. Dadurch habe ich begonnen, die Bewegungen der Leute zu sammeln,“ erzählt Koluchova. Sie begann Menschen zu interviewen, fragte nach Lieblingsliedern und persönlich-typischen Bewegungen oder Gesten. „Manchmal sind die Leute dann total schüchtern und wissen nicht, welche Bewegung oder Gestik sie mir zeigen sollen, aber manche sagen auch direkt ‚ja das mache ich oft‘ und dann finden wir zusammen eine Geste, die ich dann filme und lerne.“ „Portrait of“ heißt die Tanz Performance von Koluchova deshalb. Einen Ausschnitt aus ihrer Performance „Portrait of… edition Netphen“ zeigt sie am letzten Tag ihrer Residenz in dem kleinen Gemeinderaum. Als das Publikum eintritt und seine Plätze einnimmt, steht sie bereits mit geschlossenen Augen im Raum. Ihre Hände sind miteinander verschränkt, sie bleibt auf der Stelle stehen, auch als die Performance beginnt. Nur ihre Augen öffnen sich und ihr Kopf bewegt sich zur Musik. Ihre Gesichtsausdrücke wechseln von Neugierde oder Ernst zu fröhlicher Aufgewecktheit. Schließlich bewegt sich ihr ganzer Körper, nur die Hände bleiben weiterhin verschränkt.
Nach einigen Minuten unterbricht sie ihre Choreographie und spricht zum Publikum. Sie erklärt, dass dies ein Ausschnitt aus der Performance sei, die sie in Italien gezeigt hat – es ist die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität und Herkunft. „Ich habe mich gefragt, was tschechisch für mich ist und da musste ich an diesen Volkstanz denken,“ ein paar Elemente des Tanzes, flossen in ihre eigene Choreografie mit ein, unter anderem die ineinander verschränkten Hände. Nach der kurzen Erklärung fährt sie fort mit der Präsentation ihrer Gestensammlung. Zunächst zeigt sie alle Gesten hintereinander, dann verbindet sie diese tänzerisch miteinander. Am Ende ihrer Performance gibt die Tänzerin uns einige der Gesten mit auf den Weg, sie macht sie vor und wir ahmen sie nach. Eine davon stammt sogar direkt aus Deuz, das Publikum scheint sie besonders sorgfältig nachzuahmen und rätselt, von wem sie wohl stammen könnte.
Die Bewegungen, die Koluchova dem Publikum zum Nachahmen mitgibt, sind nur drei von insgesamt 40 recherchierten Gesten und Bewegungen. Dafür sei sie in Flensburg und einem Dorf bei München, in Budapest und bei ihrer Familie in Tschechien gewesen. Die letzten sieben Gesten stammen aus Deuz. Einige Gäste im Publikum scheinen ihre eigenen Gesten wiederzuerkennen und begleiten die Performance mit Lachen und Staunen. Dieser Moment zeigt, wie viele Menschen Koluchova bereits auf ihrer Performance- und Recherchereise getroffen hat. Manche Gesten sind nur kleine Handbewegungen, wie ein erhobener Finger, andere sind groß. Einmal sieht es aus, als würde sie dirigieren, ein anderes Mal läuft sie mit grübelndem Gesichtsausdruck durch den Raum. Drei Lieder begleiten ihre Performance, sie ergaben sich während der Recherche aus der Frage nach dem Lieblingslied der Menschen. In ihrer Musiksammlung sei bereits alles von Black Metal bis Kirchenmusik vorhanden – die Musik sei genauso vielseitig wie die Bewegungen.
Aber nicht nur die verschiedenen Menschen, ihre Bewegungen und die Musik haben Koluchovas Stückentwicklung beeinflusst, auch der Ort spielte immer eine Rolle. An Deuz schätze sie besonders die Ruhe. „Ich bin selbst sehr nah an einem Wald aufgewachsen, also war das ein wichtiger Aspekt meines Alltags in den zehn Tagen hier vor Ort, sodass ich jeden Tag spazieren gegangen bin und dann mit frischem Kopf weiterarbeiten konnte,“ berichtet sie. Als nächstes reise sie mit ihrem Projekt nach Lettland und Polen. Wie es dann weiter geht und wie die Performance am Ende aussehen wird, wisse sie noch nicht. Klar sei aber schon, dass manche Bewegungen von einer Malerin in Bilder verwandelt werden sollen.
Austausch und verschiedene Perspektiven
Nach der Performance versammeln sich die Zuschauer*innen, zwei Mitarbeitende vom Q und die Künstlerin im Foyer des Gemeindeshauses zu Kaffee und Kuchen, tauschen sich aus über ihre Erfahrungen während der Interviews. „Sie fragte mich auf einmal nach meinem Lieblingslied und mir fiel gar nichts ein,“ erzählt eine Frau. Ein zustimmendes Lachen geht durch die Runde. Ein anderer Mitwirkender spricht seine Begeisterung über das Tanztheater und die Performance von Koluchova hier in Netphen-Deuz aus. „Sonst muss man für Ballett immer weit fahren nach Wuppertal und Hagen,“ sagt er.
Die Qulturwerkstatt scheint mit ihren kulturellen Angeboten gut bei den Menschen im Ort anzukommen, besonders durch die Tiny Residencies, die auch andere kulturellen Formate nach Deuz brachten. Ich merke schnell, dass sowohl Bünnig als auch das Publikum und die Künstlerin selbst diesen Austausch schätzen. „Solche ein Austausch bietet immer die Möglichkeit, andere Perspektiven einzunehmen, indem man anderen Menschen begegnet oder sich mit einem Kunstwerk auseinandersetzt. Und wenn es dann noch Arbeiten sind, die hier vor Ort partizipativ entstehen, dann ist die Bereitschaft zu Vorstellungsbesuch und Auseinandersetzung auch nochmal eine andere,“ so Bünnig. Der Austausch der Künstler*innen finde aber auch mit Nachbar*innen und ehrenamtlichen Mitgliedern des Q statt: Während ihrer zehntägigen Residenz war Koluchova in einem Gästezimmer gleich neben der Qulturwerkstatt untergebracht. Eine Küche gebe es dort allerdings nicht, deswegen nutzte sie die „Qüche“ des Q, auch um dort zu arbeiten und Interviews zu führen. So habe sie automatisch auch andere Menschen kennengelernt, die zum Q gehören, hier Kulturevents veranstalten oder mit ihren Gruppen die Räumlichkeiten nutzen. Sei es ein Imkerverein, eine interkulturelle Mutter-Kind Gruppe oder ein Theater Club. Das Q als kultureller Begegnungsort für verschiedene Menschen – das ist auch der Wunsch für die Zukunft. „Unser Ziel ist möglichst viele Menschen mit ganz verschiedenen Interessen und Hintergründen hier zusammen zu bringen, die sich woanders vielleicht gar nicht treffen würden“.
Wenn die Baustelle auf der unteren Etage fertig ist, soll hier ein multifunktionaler Veranstaltungsraum entstehen, für Theaterperformances, Konzerte und Lesungen, aber auch Bewegungsworkshops oder Yoga. Dafür soll der Raum flexibel nutzbar sein, auch ein Café – besser gesagt „Qafé“ – ist geplant. Der Außenbereich mit Garten bietet weitere Möglichkeiten. Bünnig hofft, dass der Umbau im kommenden Jahr fertiggestellt wird – zumindest so, dass die Räumlichkeiten nutzbar sind. Bis dahin seien Residenzen wie die Tiny Residencies trotzdem möglich, wenn auch hier und da improvisiert werden müsse. Koluchova habe sogar auf der Baustelle in der ehemaligen Werkstatt geprobt. Die Kälte habe sie nicht gestört. „Ich wollte die Bewegungen ausprobieren und wenn man sich eine Stunde bewegt, ist es auch nicht so kalt,“ erzählt sie lachend.