Digitale Sichtbarkeit, Interview 16.11.2022

„Wir sind jetzt einfach alle tierisch digitalisiert“

Leptophonics (Kaling Gummersbach GbR)
© Jörg Dieckmann

Das „Raus ins Land“-Förderprogramm „Digitale Sichtbarkeit“ unterstützt Künstler*innen und Häuser dabei, auch digital präsenter zu sein. Mit dabei: Andreas Gummersbach, ein Teil des Saxophon-Duos Leptophonics. Mit seinem Kollegen Andreas Kaling macht er seit 28 Jahren Musik in verschiedenen Formaten und Stilen. Gemeinsam mit dem Schauspieler Michael Grunert haben sie den digitalisierten „Stadt-Rund-Klang Johannisberg“ entwickelt. Die Filmszenen können ab Mitte Dezember in Bielefeld an verschiedenen Stationen am Johannisberg mittels QR-Code und App abgerufen werden. Im Interview erzählt Gummersbach über ihre Musik und die Idee zur App.

Wie bist du zur Musik und zum Duo Leptophonics gekommen?

Andreas Gummersbach: Saxophonist bin ich seit Urzeiten. 1994 habe ich mich mit meinem Kollegen Andreas Kaling zusammengetan. Zunächst mal haben wir einfach zusammen gespielt und gemerkt, dass wir ganz ähnlich musikalisch ticken. Dann hatten wir Gelegenheiten, Konzerte zu spielen und die kamen sehr gut an. Deswegen haben wir uns auf diese Duo-Formation spezialisiert und wir spielen mittlerweile mit fast allen Saxophon-Typen von Bass bis Sopran. Dadurch können wir alle möglichen Veranstaltungen machen. Wir haben zum einen den konzertanten Bereich, der ist aber gar nicht so im Vordergrund im Moment. Wir haben in den unterschiedlichsten Situationen szenisch gespielt, haben Stummfilm-Vertonungen gemacht und verschiedene CDs produziert. Mit unseren Instrumenten sind wir stromunabhängig und absolut beweglich. Deswegen können wir auch an verschiedenen Orten spielen. Wir haben zum Beispiel Sparkassen eingeweiht, auf dem Dach des höchsten Hauses Bielefeld gespielt oder im Luftschutzbunker unterm Rathaus, wir spielen an sakralen Orten oder auch in der Natur. Seit ungefähr fünf Jahren machen wir Projekte zusammen mit dem Bielefelder Schauspieler Michael Grunert und sind sozusagen ein Trio geworden. Als letztes haben wir eine Produktion mit dem Titel „Heimat“ gemacht, bei der wir uns in theatralen Szenen mit dem Begriff „Heimat“ als Annäherung an ein Gefühl auseinandergesetzt haben. Das Ganze haben wir dann im Rahmen einer Theaterperformance an verschiedenen Orten aufgeführt. Bei dieser Performance haben wir auch immer versucht, Ortsgruppen mit auf die Bühne zu holen. Also wir standen mit einem Posaunenchor auf der Bühne, mit Märchenerzählern, mit Folkmusikern, mit einer Trachtengruppe, mit allen möglichen Leuten. Für alle haben wir jeweils eine Szene geschrieben. Uns liegt daran, das Ambiente und die Menschen mit in unser zum Teil improvisiertes Projekt mit einzubeziehen.

Das klingt nach sehr vielen musikalischen Genres durch die verschiedenen Projekte. In welchem Genre verortet ihr euch? Hat sich eure Musikrichtung über die Jahre vielleicht verändert?

Andreas Gummersbach: Also wir kamen ganz deutlich aus dem Jazz. Das heißt aber nicht, dass wir Swing Musik gemacht haben, sondern dass wir die improvisatorischen Elemente ganz wichtig fanden. Das hat eigentlich in jedem Projekt einen wesentlichen Charakter gehabt, dass wir einfach über die lange Zeit sehr, sehr viele Erfahrungen gemacht haben im direkten, spontanen Zusammenspiel. Und da spielen wir verschiedenste Stile. Wir können auch eine spannende Improvisation über einen Schlager machen oder über einen klassischen Stil oder Jazz-Elemente. Also im Grunde genommen nehmen wir musikalische Elemente, die wir auf unsere Art spielen. Und in der Art ist eben Improvisation immer ein Bestandteil und deswegen auch unglaublich flexibel einsetzbar.

Den musikalischen Spaziergang nennt ihr „Stadt-Rund-Klang“ – wie ist die Idee zur Digitalisierung dieses Stadt-Rund-Klangs entstanden?

Andreas Gummersbach: Wir machen solche Stadt-Rund-Klänge mit Publikum schon lange in Bielefeld oder auch in anderen Orten. Den ersten Stadt-Rund-Klang haben wir 2000 gemacht. Eine Sight-Hearing-Tour haben wir auch gemacht, die ging mehr aufs Land. Jetzt machen wir das, was wir auch mit Publikum machen, so, dass Spaziergänger an den Orten die Möglichkeit haben, sich plötzlich Szenen anzugucken. Man geht durch diesen Ort, Johannisberg, und weiß gar nicht, wie viel Geschichte dahinter steckt. Wir haben recherchiert, uns fünf Stationen ausgesucht und haben zu den Stationen dann Szenen geschrieben und diese gefilmt. Per QR-Code können sich die Interessierten dann beim Spaziergang oder später zu Hause diese Szenen auf das Handy laden und anschauen. Das ist also eine Weiterentwicklung von dem, was wir schon öfter live gemacht haben. Das heißt, Publikum mitzunehmen, nicht im Konzertraum zu spielen, sondern draußen einen Spaziergang zu machen und dann eben durch die Szenenwechsel speziell für die Orte komponierte Musik zu spielen.

Warum habt ihr beschlossen, diesen Weg, den ihr ja normalerweise live geht, jetzt zu digitalisieren?

Andreas Gummersbach: Weil es spannend war. Weil wir Interesse hatten, einen Schritt weiterzugehen. Das, was wir unbedingt brauchen, sind die Live-Momente, das Publikum und der direkte Austausch. Dies ist jetzt eine Ergänzung. Es gibt so viele digitale Begleitungen mittlerweile. Wenn ich zum Beispiel durch ein Museum oder durch eine neue Stadt gehe, merke ich, es ist sehr leicht, an Informationen zu kommen. Wir sind jetzt einfach alle tierisch digitalisiert. Vor Corona wären wir wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen. Ich glaube, unsere künstlerische Welt würde anders aussehen, wenn es Corona nicht gegeben hätte. Es gibt durchaus auch eine Stimme in vielen von uns, die sagt: „eigentlich habe ich auf diese digitale Scheiße gar keine Lust. Das war früher so schön.“ Man schlägt eine Richtung ein, die ja nicht nur freiwillig war, sondern die das Ergebnis einer gesellschaftlichen oder geschichtlichen Entwicklung war.

Wie weit seid ihr mit den Arbeiten an dem digitalisierten Weg?

Andreas Gummersbach: Wir sind mit den Filmen fertig und dabei, noch Verfeinerungen im Schnitt zu machen. Wir haben die Absprache mit der App-Firma gemacht, dass das Material Ende November an die Firma geht und dass wir Mitte Dezember die Filme dann veröffentlichen können.

Wie lange hat dieser ganze Prozess gedauert?

Andreas Gummersbach: Die Idee kam im Frühjahr und die Aufnahmen gingen dann über den Sommer. Wir haben erst mal selbst diesen Rundgang gemacht, dann teilweise vor Ort noch mal wieder geprobt und entwickelt und bei passendem Wetter dann die Filmaufnahmen gemacht.

Was erhofft ihr euch von der App?

Andreas Gummersbach: Wir sind Teil der Bielefelder Kulturszene. Wir möchten in kleinen Momenten präsent sein, genau dafür kennt uns Bielefeld. Viele Bielefelder sind schon unsere Rundgänge mitgegangen. Unsere App ist für die, die uns kennen oder für neugierige Menschen, die die Stationen zufällig entdecken. Hier auf dem Johannisberg ist ein wunderschöner Wald, ein Stück des Teutoburger Waldes, mitten in der Stadt. Und dort sind diese ausgewählten Stationen, die eine Mischung aus Bielefelder Stadt- und Kulturgeschichte sind. Wenn Leute daher laufen, werden sie darüber normalerweise nichts wissen. Dieser Ort war schon im 19. Jahrhundert ein bürgerliches Stadterholungsgebiet, wo man spazieren ging. Bei unserem Weg geht es also viel um die Stadtgeschichte. Wir spielen unter anderem auf dem Denkmal eines Zwangsarbeiterlagers, das dort existierte, wo 500 ukrainische Zwangsarbeiter*innen von 1943 bis 45 untergebracht waren. Und wir spielen vor einem kleinen Denkmal, was sonst keinem auffällt: das Kehlkopf-Denkmal, das an einen alten Schulchor des Ratsgymnasiums in Bielefeld erinnert.

Was denkst du, wie die Menschen eure Projektidee aufnehmen?

Andreas Gummersbach: Es gibt unterschiedliche Reaktionen, wenn ich Menschen davon erzähle. Ich habe zum Beispiel eine Bekannte, die findet richtig schlimm, was wir machen. Sie sagt, sie hasst es schon, wenn die Leute mit ihren Handys durch den Wald gehen und wenn wir sie auch noch dazu bringen, auf ihre Handys zu starren und nicht auf die Bäume, das findet sie ganz gruselig. Das ist die eine extreme Seite. Die meisten sagen aber, das ist ein spannendes Projekt, fragen wann es fertig wird. Für die jüngeren Generationen ist es eine Selbstverständlichkeit, da gibt es keine Vorbehalte. Wir sind alle über 60. Wir begeben uns auf ein Terrain, wo wir nicht selbstverständlich zu Hause sind.

Plant ihr in der Zukunft, diesen Weg noch auszuweiten, also noch Stationen hinzuzufügen?

Andreas Gummersbach: Wir könnten das sicherlich ausweiten, aber dafür bräuchten wir neue Fördermittel. Der Aufwand ist groß, das muss irgendwie finanziert werden. Diese Fördermittel sind eine wunderbare Hilfe, solche Projekte zu tun, die auch mal über das normale Denken eines Künstlers hinausreichen. Eines Künstlers, der sich hier in Bielefeld nicht alleine durch die Kunst ernähren kann, sondern eben auch unterrichten muss, damit er überhaupt den Kopf über Wasser hält.

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Sabrina Fehring
Sabrina Fehring
studiert Angewandte Sprach-, Literatur-, Kulturwissenschaften und Journalistik in Dortmund. Neben ihrem Studium sammelt sie Erfahrungen im Kulturjournalismus bei kritik-gestalten und den Blogs der Mülheimer Theatertage und RuhrBühnen. Ihre Freizeit verbringt sie als Schauspielerin und Regisseurin beim Theater am Fluss in Schwerte.